Kommentar
Die russische Regierung setzte bestimmte Einkommensgrenzen fest, unterhalb denen man offiziell als „arm gilt“. Allerdings kann der Staat den Rubelkurs, die Preise von alltäglichen Gütern und die tatsächliche Kaufkraft der Währung manipulieren, um Armut zu verstecken. Der „existenzsichernde“ Lohn in Russland für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter betrug Ende 2020 12.273 Rubel (160 US-Dollar) pro Monat. Das klingt wie eine Bananenrepublik oder Bangladesch, allerdings erfolgt die Bezahlung häufig „schwarz“, also an dem Finanzamt vorbei. Dies spart zwar Unternehmen und Arbeitnehmern Geld, aber es macht sie allesamt strafbar.
Das Phänomen Armut ist also komplex und setzt sich zusammen aus der Quantität und Qualität von Gütern, die der Bürger sich leisten kann mit einem Gehalt, Zugang zu Bildung, Aufstiegschancen usw.
Fast 19,1 Millionen Menschen oder 13,1 % der russischen Bevölkerung lebten in der ersten Hälfte des Jahres 2021 in Russland unter der Armutsgrenze, so die Anfang August vom russischen Statistikausschuss (Rosstat) veröffentlichten Zahlen. Der russische Milliardär Oleg Deripaska wagte es auf Telegram, die offiziellen Zahlen von Rosstat als Quatsch zu verwerfen:
„Sie versuchen uns davon zu überzeugen, dass die Zahl der Russen, deren Einkommen unter dem existenzsichernden Lohn liegen, 17,8 Millionen Menschen beträgt. Tatsächlich gibt es in unserem Land etwa 80 Millionen Bürger mit einem solchen Einkommen.“
https://www.themoscowtimes.com/2021/04/19/billionaire-deripaska-walks-back-criticism-of-russias-poverty-figures-a73659
Hinterher löschte er den Beitrag. 75 Prozent der von Mariox befragten Einwohner von Moskau, der Region Moskau und der Region Rjasan gaben an, dass sie sich als arm „betrachten“ oder „fühlen“. Ihre Wahrnehmung basiert darauf, dass sie keine Wohnung kaufen können, sich keine hochwertigen Lebensmittel, Oberbekleidung oder Möbel leisten können und keine Ersparnisse für Urlaubsreisen haben. Sie sagten auch, dass sie überhaupt keine Ersparnisse haben oder auf Kredit leben.
In einer Reportage beschreiben der 11-jährige Yuriy und sein 13-jähriger Kumpel Max ihr Leben in den östlichen Vororten von St. Petersburg – von der Dachgeschosshütte, in der sie tagsüber im obersten Stockwerk eines achtstöckigen Wohnblocks schlafen, bis in die Computerclubs, wo sie die ganze Nacht aufbleiben, um die unerwünschte Aufmerksamkeit von Pädophilen oder der Polizei und Sozialarbeitern zu vermeiden, denen sie nicht vertrauen.
Yuriys Traum ist es, in ein Zuhause zurückzukehren, in dem seine Mutter und sein richtiger Vater wieder zusammen sind, und er wird nicht von seinem betrunkenen Stiefvater geschlagen. Max hegt den heimlichen Wunsch, wieder zur Schule zu gehen und Arzt zu werden.
Das Sowjetische Arbeitsforschungsinstitut entwickelte 1965 die sozialen Mindesteinkommensnormen, indem es Standards für alle Aspekte des Konsums festlegte, von Nahrung und Kleidung bis hin zu Wohnen, Urlaub und so weiter. Der mit diesem sozialen Mindesteinkommen verbundene „Warenkorb“ legte über 3.000 Kalorien pro Person und Tag fest, und der Anteil an Tier- und Milchprodukten in dieser Ernährung war sehr hoch.
Man kann sich vorstellen, dass der russische Staat heute intern genauso rechnet wie zu Sowjetzeiten. Solange die Bürger nicht en masse verhungern, ist das System nicht in Gefahr. Rebellion ist zu gefährlich und lohnt sich nicht, denn wie damals gibt es ein Spitzel-Netz aus Bürgern, die sich ein Extra-Einkommen sichern, indem sie Mitmenschen verraten.
Pure Absicht
Einen bestimmten Teil der Bevölkerung in Armut zu halten, könnte eine bewusste Strategie der Behörden sein, meinte ein Experte der Moskauer Carnegie-Stiftung namens Andrei Kolesnikov.
Die Menschen der unteren Mittelschicht sind der Regierung dankbar, dass sie ihre gesellschaftliche Grenzstellung „sichert“ und sie nicht weiter in die Klasse der Armen abgleiten lässt. Die Regierung „erkauft“ sozusagen die Treue jener Menschen, die ansonsten dem vollständigen Elend erliegen würden. Deshalb bekennt sich die Regierung zum „Sozialstaat“, indem sie kleine Zuwendungen gewährt, statt der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, gute Jobs zu finden oder Geschäfte zu machen.
Russland gibt über 3 % des BIP – oder 30 Milliarden US-Dollar – für Sozialhilfeprogramme aus. Dieses Ausgabenniveau ist mehr als dreimal höher als das kombinierte Einkommensdefizit aller armen Familien, laut der Weltbank.
Russland gibt Milliarden aus, um bestimmte Kategorien von Einzelpersonen oder Haushalten – wie Veteranen oder Familien mit kleinen Kindern – unabhängig von ihrem Einkommensniveau zu unterstützen. Solche Ausgaben sind bei der Verringerung der Armut unwirksam, da nur ein Bruchteil der Ausgaben an die ärmsten Haushalte geht. Beispielsweise gingen 2018 nur 10 % der Ausgaben der Regierung an die 13 % der in Armut lebenden Russen, fanden die Ökonomen der Bank heraus.