Alexander Benesch
Wer hat bei den Protesten in der Ukraine aus der Distanz auf Polizisten und Demonstranten geschossen? Die wirklichen Täter können nur schwierig ermittelt werden und die Beschuldigten und deren Sympathisanten würden es dann immer noch abstreiten.
Die Russland-Propaganda präsentierte zunächst die Aufzeichnung eines abgehörten Telefongesprächs zwischen der EU-Funktionärin Ashton und dem Außenminister Paet von Estland. Paet schildert darin seine unbewiesenen Mutmaßungen, die er von der bekannten Ärztin Dr. Olga Bogomolets gehört haben will, laut denen die ukrainische Opposition die Scharfschützen angeheuert hätte, die sowohl eine Reihe Demonstranten als auch Janukowitsch-treue Polizisten erschossen haben sollen. Die britische Zeitung Telegraph zitierte später direkt die Ärztin mit einem deutlichen Dementi, das nun in längerer Fassung vorliegt:
“Ich sah nur die Demonstranten. Ich weiß nicht welche Art von Wunden bei den Militärleuten vorhanden waren. Ich habe keinen Zugang zu diesen Leuten.“
„Niemand, der nur die Wunden sieht wenn man die Opfer behandelt, kann mit Bestimmtheit irgendetwas sagen über die Art von Waffe [die verwendet wurde]. Ich hoffe, internationale Experten und ukrainische Ermittler finden heraus, welche Art von Waffen [benutzt wurden], wer an den Tötungen beteiligt war und wie es geschehen ist. Ich habe keine Daten um irgendetwas zu beweisen.“
„Ich war eine Ärztin die versucht hat, Leben auf dem Platz zu retten.“
Es hätte den Putin-Propagandisten von Anfang an klar sein müssen, dass unbestätigtes Hörensagen, welches ein Politiker aus dem Gedächtnis schildert, keine Beweiskraft hat. Auch hätte klar sein müssen, dass eine Ärztin vor Ort nicht viel mehr beobachten kann als die Stellen, an denen Geschosse auf die Körper trafen. Nur eine forensische Untersuchung des Tatorts, Zeugenbefragungen und Obduktionen der Leichen können hier Klarheit verschaffen, nicht die Mutmaßungen einer Ärztin vor Ort.
Die Putin-Medienfront klammert sich nun ans letzte Strohhälmchen, ein CNN-Video auf dem sie behauptet, auch den Janukowitsch-treuen Soldaten bzw. Polizisten geholfen zu haben. Man müsste denken, sie würde sich an dieses wichtige Detail genau erinnern. Ob sie nun gegenüber dem Telegraph oder gegenüber CNN unzutreffende Aussagen gemacht hat, letztendlich muss jeder einsehen, was sie geradeheraus erklärte: „Ich habe keine Daten um irgendetwas zu beweisen.“
Desweiteren geistern unscharfe Youtube-Videos mit amateurhaften „Erklärungen“ und Mutmaßungen durchs Netz, die ebenfalls keine Beweiskraft haben.
Zum Motiv: Demonstranten der Opposition sollen Scharfschützen angeheuert haben, um sowohl eigene Demonstranten als auch Janukowitsch-treue Polizisten zu erschießen, damit die USA einen Vorwand hätten, den Druck zu erhöhen. Hier ist anzumerken: Warum hätten diese Scharfschützen dann nicht ausschließlich Demonstranten getötet, was weit mehr propagandistischen Sinn ergeben hätte?
Auch die Seite von Janukowitsch, Berkut und Russland hätte ein Motiv gehabt, Scharfschützen einzusetzen: Dies hätte Angst unter den Demonstranten verbreitet und hätte Russland samt Janukowitsch einen Vorwand gegeben, den Druck zu erhöhen. Haben am Ende beide Seiten mit Gewehren gefeuert? Die typischen, gängigen Kaliber haben sowieso sehr ähnliche Auswirkungen und es ist zu bezweifeln, dass Dr. Bogomolets anhand von Leichen vor Ort genau erkannt haben will, dass Opfer auf beiden Seiten von derselben Gruppe Scharfschützen getroffen worden sein sollen. Warum hätten die Scharfschützen auch identische Gewehre und Kaliber verwenden sollen wenn doch die Auswahl so groß ist?
Hennady Moskal, der ehemalige Vize des wichtigsten ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, erklärte in einem Interview mit der Zeitung Dzerkalo Tizhnya, das Scharfschützen von Janukowitschs Innenministerium und des SBU verantwortlich gewesen wären. Die Absicht sei gewesen, den Konflikt zu eskalieren und einen Vorwand zu schaffen um den Maidan zu räumen.
Einer, der vom Scharfschützen-Feuer verwundet wurde, war der 57-jährige Alexander Tonskikh, 57. Er sagte gegenüber der AP dass er und dutzende weitere Demonstranten am 20. Februar um ca. 10 Uhr morgens den Maidan verlassen hätten und in südliche Richtung gegangen wären. Die Polizei Janukowitschs hätte sich plötzlich zurückgezogen worauf dann Scharfschützen aus mindestens zwei Richtungen die Demonstranten niedermähten.
Einer der historisch bekanntesten Fälle von propagandistischer Ausnutzung von Tötungen an Demonstranten war die Erschießung des westtdeutschen Studenten Benno Ohnsorg durch den Stasi-Agenten Karl-Heinz Kurras. Der West-Berliner Polizist Kurras traf den 26-jährigen mit einem Pistolenschuss aus kurzer Distanz tödlich in den Hinterkopf. Ohnesorgs Erschießung trug zur Ausbreitung und Radikalisierung der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er-Jahre bei. Sein Todestag gilt als Einschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen.
Nachdem 2009 bekannt wurde, dass Kurras 1967 inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit gewesen war, wurden neue Ermittlungen durchgeführt. Sie ergaben 2011, dass er auf Ohnesorg ohne Auftrag, unbedrängt und wahrscheinlich gezielt geschossen hatte. Er wurde dennoch nicht erneut angeklagt.
Die Scharfschützen der Ukraine bleiben bis auf weiteres, objektiv betrachtet, ein völlig offener Fall, der zeigt dass die „alternativen“ Medien im Westen meist nur unreflektiert den Mainstream-Medien des Ostens folgen.