Von Alexander Benesch
Manche Menschen haben einen größeren Reiz nach Abenteuern und neuen Dingen als andere. Eine Gesellschaft, in der niemand geltende Begrenzungen in Frage stellt, wäre wie festbetoniert und unfähig zur Innovation. Der Erfinder des Benzinmotors galt in seiner Nachbarschaft als Irrer, der zuviel Lärm produzierte und doch tatsächlich dachte, die Dampfmaschine und das Pferd mit seinem Donnerwagen ersetzen zu können.
Nichtsdestotrotz kam auf jeden ehrlichen Innovator und auf jedes Genie eine gewisse Anzahl Hochstapler und auch Fantasten, die wirklich überzeugt waren, ein Perpetuum Mobile bauen zu können oder die „Germanische Neue Medizin“ entdeckt zu haben oder mit „herabgestiegenen Meistern“ zu kommunizieren.
Heute gibt es mit dem Internet ein universelles Medium, das Zugang bietet zu allen möglichen Dingen, die zumindest für den Einzelnen „neu“ sind und geltende Begrenzungen in Frage stellen. Im Internet finden sich neben akkuraten Informationen über zukünftige Energietechnologien auch unzählige Hochstaplerseiten, die immer wieder gutgläubige Investoren aufs Kreuz legen für angebliche Wundermaschinen, die satte Renditen und Autarkie von finsteren, mächtigen Industrien versprechen.
Zweifellos ist das Internet das Netzwerk schlechthin, um abseits des Mainstreams zu publizieren und zu lesen, etablierte Meinungen in Frage zu stellen und sogar Denkmuster zu verändern und sich ein akkurateres Bild von der Realität zu verschaffen. Gleichzeitig ist das Web auch ein Instrument zur Realitätsflucht. Dank Anonymität kann man seinen Narzissmus ausleben und erfundene, fantastische Identitäten annehmen, oder doch zumindest eine falsche Darstellung eigener Leistungen verbreiten, andere Menschen belästigen oder deren Systeme hacken. Über den Sehnerv an den Bildschirm angedockt, fühlt man sich körperlos, transzendiert, in Kontrolle, so schnell wie die Lichtsignale in den Glasfaserkabeln.
Gaming kann die Erfolge und die Abenteuer liefern, die für einen in der realen Welt nicht erreichbar sind oder scheinen. Bei den stundenlangen Erkundungsfeldzügen im Netz stößt man unweigerlich früher oder später auf Webseiten, die Aufklärung von Verschwörungen oder „unterdrücktem Wissen“ bieten. Diese höchst unterschiedlichen Seiten haben meist eines gemeinsam: Einen gewissen Anteil an Verschwörungsfakten, die das neue Publikum tatsächlich in einzelnen Bereichen näher an die Realität heranführen.
Wieso findet man aber in der Regel eine Mischung aus Fakten und okkult-religiösen irrationalen Inhalten, die übernatürliche Fähigkeiten, Abenteuer und ein Transzendieren von allen normalen Begrenzungen versprechen? Sicherlich haben die magischen Verheißungen für sich bereits eine hohe Anziehungskraft. Sobald jemand neues sich wegen den Versprechungen hat rekrutieren lassen für irrationale religiöse Gruppen, folgt die übliche Mischung aus Ritualen, Vereinnahmung der Zeit und des Denkens sowie zwischenmenschlichen Dynamiken von „Meister“ und „Lehrling“. Ist der neue Rekrut genügend bearbeitet worden, so zeigen Studien, ist es ihm egal dass seine Gruppe und die Lehre die Versprechungen ihm jetzt nicht wahrmachen und dadurch nicht zweifelsfrei beweisen können, er hofft und wartet einfach gläubig weiter auf all die tollen Dinge die wohl erst nach seinem Tod kommen sollen. Der Kult trampelt auf der Realität herum, macht diese madig. Dies soll einzig und allein dazu dienen, den Mitgliedern logisches Denken auszutreiben. Wie Kulte funktionieren, wenn sie jemanden in ihre Fänge bekommen, ist gut untersucht.
Warum aber sind manche Menschen von vorneherein begeistert und sofort bereit, irrationale Ideen zu akzeptieren? Während ein gewöhnlicher Mensch höchst skeptisch wäre und zwanghafter Mensch die Wandlung und das Neue total scheut, kann es den hysterischen Personen gar nicht schnell genug gehen, sich in ein Abenteuer zu stürzen und ein Aufheben der Begrenzungen der Realität zu suchen.
Fritz Riemann schreibt in seinem Buch „Grundformen der Angst“:
Was geschieht nun, wenn man gültige Spielregeln des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, wenn man Natur- und Lebensgesetzlichkeiten nicht anzunehmen bereit ist? Dann lebt man wie in einer Gummiwelt, die scheinbar beliebig nachgiebig und willkürlich dehnbar ist, deren Ordnungen man nicht letztlich nicht ernst zu nehmen braucht, weil ja auch sie sich immer wieder verändern.
In einer solchen Welt findet man immer ein Hintertürchen, um sich den etwaigen Konsequenzen seines Handelns zu entziehen. Das Gesetz der Kausalität, z.B. der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, mag im Bereich der physikalischen Natur zutreffen – ich bin nicht bereit, ihn für mich anzuerkennen, und wer weiß, vielleicht gilt er gerade hier und heute nicht.
Man fürchtet am meisten die uns unvermeidlich begrenzenden Seiten des Lebens und der Welt, die wir als die Wirklichkeit , die „Realität“ zu bezeichnen pflegen.
Mit dieser Realität geht man nun recht großzügig um: man stellt sie in Frage, man relativiert, bagatellisiert oder übersieht sie, man versucht sie zu sprengen, sich ihr zu entziehen oder was es sonst noch an Möglichkeiten gibt, ihr auszuweichen, sie nicht anzuerkennen.
Damit erlangt man eine Scheinfreiheit, die mit der Zeit immer gefährlicher zu werden pflegt, weil man so in einer unwirklichen, illusionären Welt lebt, in der es nur Phantasie, Möglichkeiten und Wünsche gibt, keine begrenzenden Realitäten.
Aber je mehr man sich von der Realität entfernt, um so mehr bezahlt man seine Scheinfreiheit damit, daß man sich in der „wirklichen Wirklichkeit“ nicht auskennt, mit ihr nicht umgehen kann. Das führt dann dazu daß die Versuche, sich doch mit ihr einzulassen, zu wenig gekonnt sind, und daher enttäuschend verlaufen, woraufhin man sich in seine Wunschwelt zurückzieht.
Kennzeichnend für die populären Schriften entscheidender theosophischer Autoren oder aus dem verwandten Spektrum okkulter Lehren, ist die Aufweichung klarer Begriffe und Gesetzlichkeiten der Moral und Unmoral. Es heißt, diese Begriffe seien bloße Erfindung und völlig relativ. Nur das Maß der persönlichen Erleuchtung sei bedeutsam. Auch die Verantwortung, das Böse innerhalb der Grenzen der Realität mit realen Methoden zu bekämpfen, wird geleugnet. Das sogenannte Böse hätte im kosmischen Gleichgewicht zu stehen mit dem was wir als „Gut“ bezeichnen, das Böse sei unumstößlicher Teil des Kosmos. Sogar ein Hitler und ein Stalin hätten ihren Platz im Kosmos, wird den Eingeweihten erzählt. Das bloße Nachdenken über Not und reale Übel würde laut kosmischen Gesetzen die Übel nähren und jene überhaupt erst materialisieren. Auch die Opfer von Naturkatastrophen seien selbst schuld wegen ihren negativen Schwingungen. Magische Rituale hingegen sollen die gewünschten Ergebnisse bringen. Der Wille und das Wünschen „mache“ Realität.
Ähnlich ist es mit der Ethik und der Moral. Wo käme man hin, wenn man sie verbindlich nähme, und wer tut das schon wirklich? […] Wer weiß schon, was gut und böse ist; letztlich ist ja doch alles relativ und abhängig vom Standpunkt, von dem aus man es betrachtet. […] Glücklicherweise sind die Gedanken frei, und wenn man überzeugend genug versichert, dass daß alles so gewesen ist wie man will, daß es gewesen sein soll – wer kann das Gegenteil beweisen?
Auch die Logik ist eine so lästige Realität. Aber auch ihr kann man sich weitgehend entziehen – die eigene Logik ist eben eine andere, als die der anderen, darum aber nicht minder logisch. Wenn man schon Gedankensprünge macht, bei denen der andere nicht mitkommt und die er deshalb als unlogisch bezeichnet, so ist das sein Problem; ich selber verstehe sie und finde sie logisch. Und welche phantastischen Möglichkeiten bietet die Sprache, wenn man erst einmal dahintergekommen ist, was man alles mit ihr machen und wie man andere mit ihr matt setzen kann! So entwickelt man eine Pseudologik. […] Wieder wird solchen Menschen die eigentliche Angst – hier vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit – nicht bewußt.