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Staatsplan „Sieg“: Die Stasi im Leistungssport

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Von Ines Geipel

Staatsdoping gab es auch in der DDR. Leistungssport diente der Propaganda und sollte Aushängeschild des Sozialismus sein. Überwachung, Lenkung, Doping und dessen Vertuschung wurden zu Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit. Dies aufzuarbeiten hilft auch, staatlich gedecktes Doping in Sportnationen der Gegenwart aufzudecken.

755 Olympiamedaillen, 768 Weltmeister- und 747 Europameistertitel. Die Erfolgsbilanz der DDR in vierzig Jahren Sportgeschichte brachte dem kleinen Siegerland viel Ruhm, jede Menge Jubelbilder und so einiges an Prestige und Identitätsgeschichte ein. Doch so viel Sportwunderwerk verlangte auch nach Erklärung. Der Welt wie der eigenen Bevölkerung wurde dabei Glauben gemacht, dass es das herausragende Fördersystem des Landes, seine einzigartigen Trainingskonzepte, die unübertroffene Betreuung der Athleten, aber auch die besondere Aufmerksamkeit des Staates, mithin die Überzeugung des Sozialismus seien, die das Große Siegen der DDR-Athleten erst möglich machten. Märchen sind das eine, die Sportrealität ist das andere. Denn in ihr hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) generalstabsmäßig das Sagen und setzte damit erst einmal nichts anderes als die Sportpolitik der SED durch. Ab 1974 allerdings, nachdem der „Staatsplan 14.25“ – das flächendeckende Zwangsdoping von annähernd 15 000 Kaderathleten – beschlossen worden war, koppelten sich die Interessen des Geheimdienstes immer stärker von denen des SED-Apparates ab.

Verantwortlich für den „Staatsplan Sieg“ war die Hauptabteilung XX/3 der Staatssicherheit. Zu ihren Aufgaben gehörten die strenge Geheimhaltung und zu großen Teilen auch Organisation des staatlichen Dopingprogramms, die Observation und „Zersetzung“ systemkritischer Athleten, die Überwachung illegaler Dopingforschung, die Verhinderung der Flucht prominenter Athleten bzw. sogenannter Geheimnisträger, die absolute Kontrolle bei internationalen Sportmeetings sowie auch internationale Sport-Spionage. Im Stasi-System der Totalüberwachung einer ganzen Gesellschaft hatte der Sportbereich seine besondere Eigenheit. Medaillen waren gleichbedeutend mit Systemimage.

3.000 Stasizuträger im Leistungssport

Insofern bauten sich ab 1974 die Geheimdienstaktivitäten vor allem um die illegale Leistungssteigerung um jeden Preis aus. Staatssicherheit und Staatsdoping bildeten eine Doppelstruktur systemimmanenter Manipulation, die der Basisraum der rigorosen Erfolgsproduktion war. Nichts wurde in ihm dem Zufall überlassen. So, wie das Dopingsystem mit den Jahren harsch entglitt, explodierte parallel dazu – wie zwei Seiten einer Medaille – die Zahl der Stasi-Spitzel im Sport. Arbeiteten 1972 etwa zehn Prozent der DDR-Olympioniken dem Geheimdienst zu, waren es 1976 in Montreal 14 Prozent, 1980 in Lake Placid 20 Prozent und 1984 in Sarajevo bereits 25 Prozent. Das Spitzelsystem im DDR-Hochleistungssport zählte in den achtziger Jahren annähernd 3.000 Stasizuträger.

Maßgebend für diesen Strategie-Pakt war niemand anderer als Stasi-Chef und spezieller Sportfan Erich Mielke. Die Berliner Sportvereinigung (SV) Dynamo war sein Ziehkind. Hier sollte ohne jede Hemmung besonders viel Ruhm eingeheimst werden. Mielke war dabei zugleich auch der zentrale Gegenspieler von Manfred Ewald, dem langjährigen DTSB- und NOK-Präsidenten. Beider Verhältnis kann als Beleg gelten für Willkür und Machtentgrenzung innerhalb einer Diktatur. Als die DDR-Sportführung beispielsweise beschloss, einige olympische Sportarten nicht mehr zu fördern und demzufolge aus dem Kadersystem zu entlassen, hielt Erich Mielke selbstherrlich dagegen und leistete sich mit „Dynamo Berlin“ und „Dynamo Weißwasser“ die kleinste Eishockeyliga der Welt. Besonders gern vergab er Großaufträge für den Bau exorbitant teurer Sportanlagen wie die Eislaufbahn in Berlin-Hohenschönhausen und die Bob- und Rodelbahn in Altenberg.

Der Sportler als „echte sozialistischen Gemeinschaftsarbeit“

Aber auch in Sachen Doping hielt Stasi-Chef Mielke ganz auf Forcierung, wobei ihm zuspielte, dass die scheinaltruistische DDR ab Anfang der achtziger Jahre das Prinzip Kommerz für sich entdeckte. Für diesen neuen Kurs setzte Sportfan Mielke den Prinzipal des eng mit dem Geheimdienst verflochtenen Finanzimperiums „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) Alexander Schalck-Golodkowski ein, der ihn just zu der Zeit mit der Restrukturierung des ostdeutschen Spitzensports betraute. Der „Offizier im besonderen Einsatz“ (OibE) hatte dabei insbesondere zu klären, ob das zwangsgedopte Sportlermaterial nicht dabei helfen könnte, die chronisch defizitäre Zahlungsbilanz des Landes aufzubessern. Schalck legte binnen drei Wochen ein Thesenpapier zur Umstrukturierung der Sportmedizinischen Dienstes der SV Dynamo vor, das zugleich die Generallinie für die kommende Hochleistung im Land vorgab. In ihm entwarf er das Modell eines Athleten als einer „echten sozialistischen Gemeinschaftsarbeit“, die in der „Einheit zwischen Sportfunktionär, Wissenschaft und Produktion“ fabriziert werden sollte. „Die Zersplitterung der wissenschaftlich-praktischen Kapazitäten ohne einheitliche und koordinierende Leitung führt zu erheblichen Effektivitätsverlusten. Das wirkt sich in der Industrie – nur so will ich das vergleichen – im gleichen Sinn negativ aus.“

Der effiziente DDR-Maschinenathlet als Ideal für den zukünftigen Drogensport. In jedem Fall sicherte Schalck durch seine Neufundamentierung dem ostdeutschen Hochleistungssport eine nächste, noch radikalere Runde der Entgleisung. Denn für das Olympiajahr 1984, in dem die DDR mit dem ersten Platz der Länderwertung in Los Angeles liebäugelte, wurde eine neue „Überbrückungsmaßnahme“ für Sporthöhepunkte durchgesetzt. Das geheime Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig hatte mittels Computer exakte Zeitpläne für Athleten erstellt, um die mittlerweile international eingeführten Steroid-Kontrollen durch „genau errechnete und erprobte Dosen von Testosteron und Epitestosteron, intramuskulär gespritzt, zu überbrücken.“ Genauer: zu umgehen. Schalck hielt es für geboten, die notwendigen Geräte sofort im Westen anzukaufen, um dadurch die „wissenschaftlich-feindliche Haltung, speziell der Leistungsmediziner“ ausbremsen zu können. Auch aus diesem Grund erhöhten sich die Valutaaufwendungen für den DDR-Sport in den achtziger Jahren rapide: zwischen 1985 und 1987 von 6, 8 auf 12, 2 Millionen. Viel Geld für ein marodes Land.

Im März 1987 kam Schalck gegenüber der obersten Sportleitung mit einem weiteren Vorschlag, indem es um den Aufbau einer Sportagentur mit Außenhandelsvollmacht ging. Sie sollte zwei zentrale Optionen haben: „Die Konzentration aller Aktivitäten der Nutzung des Kommerz im Sport durch eine dazu berechtigte Firma und die Berücksichtigung handelspolitischer Erfordernisse des Außenhandels der DDR.“ Die Agentur wurde dann erst am 1. Oktober 1989 gegründet. Im Vorfeld hatten Mielke und Schalck noch andere Weichen zu stellen. Im inneren Zirkel der Sportmacht war der „Ruf nach der Wunderwaffe“ mit Blick auf Los Angeles immer lauter geworden, der auf Explosiveres zielte. Die erhoffte „Wunderwaffe“ – das waren Wachstumshormon, Gendoping, EPO, Blutdoping, Psychopharmaka und speziell für den einzelnen Athleten entwickelte und genau abgestimmte Substanzkombinationen.

Wachstumshormone und Blutdoping

Bereits am 1. Dezember 1983 hatte IM „Technik“ alias Dr. Manfred Höppner, Chefinitiator des DDR-Staatsdopings, seinem Führungsoffizier über eine völlig neue Substanz berichtet. Sie hieß Somatropin. „Ausgehend von Veröffentlichungen in der Westpresse erklärte der IM, dass es sich bei diesem Präparat um ein sogenanntes Wachstumshormon handelt. Das Präparat findet schon mehrere Jahrzehnte Anwendung in der Medizin bei kleinwüchsigen Menschen, um deren Wachstumsprozess zu beeinflussen. Bei nicht richtiger Anwendung bzw. überhöhten Dosierungen kann es dabei zu Missbildungen bestimmter Körperteile kommen. Genosse Ewald wurde bereits darüber informiert, und es wurde festgelegt, entsprechende Untersuchungen und Forschungen durchzuführen.“ Knapp vier Wochen später war das Präparat im Land, und Höppner erklärte lapidar: „Das Präparat Somatropin wird gegenwärtig geprüft.“ Wo? In Kreischa, dem Zentralinstitut des SMD, des Sportmedizinischen Dienstes, und gleichzeitig zentralem DDR-Dopingkontrolllabor. Dort wurden, wie Akten belegen, einem Wintersportler Wachstumshormone ins lädierte Knie gespritzt. Die Ärzte zeigten sich erfreut über den Behandlungserfolg. Auch Schwimmerinnen und Turnerinnen erhielten diese Substanzen gespritzt.

Doch auch Somatropin reichte nicht aus. Am 2. Mai 1985 schrieb Führungsoffizier „Erich“ nach einem Bericht von Dr. Manfred Höppner: „Der IM informierte über das Forschungsprogramm und den dazu einbezogenen Personenkreis. Darüber hinaus sind noch ca. 100 Aktive im Rahmen der angewandten Untersuchung einbezogen, jedoch sind diese nicht darüber informiert, dass es sich um Forschungsprobleme handelt bzw. davon, was sie tatsächlich bekommen. Ihnen wurde lediglich gesagt, dass die Untersuchungen dem Zwecke der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Arbeit dienen und deshalb wöchentlich darüber berichtet werden muss, welche Erscheinungen und Empfindungen bei ihnen aufgetreten sind.“

Unklar bleibt, welche Mittel bei der angestrengten Suche nach „Erscheinungen und Empfindungen“ im Athleten zum Einsatz kamen. Doch seit Mitte der achtziger Jahre existieren in Höppners IM-Akten immer wieder auch Berichte zu Forschungen außerhalb des „Staatsplans 14.25“. Am 5. August 1986 teilte er mit: „Am 25. 6. 1986 fand im Sporthotel eine interne Beratung über Probleme der Verbesserung der Sauerstoffversorgung bei Leistungssportlern statt. Es muss davon ausgegangen werden, dass zumindest ab dem Zeitpunkt dieser Beratung der angeführte Personenkreis Kenntnis darüber erhielt, dass man sich im Leistungssport der DDR mit dem Gedanken des Blutdopings beschäftigt. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass seit April 1986 das Blutdoping auf der Verbotsliste der Medizinischen Kommission des IOC steht, in Auswertung der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles. Die gegenwärtigen Untersuchungen auf diesem Gebiet laufen außerhalb des Staatsplanthemas 14.25.“

Ist Blutdoping die ersehnte Wunderwaffe? Besorgniserregend, da noch immer ungeklärt, findet sich das Thema Blutdoping noch an anderer Stelle und zwar im Zusammenhang mit dem Tod des Berliner Sportarztes Jürgen Stanzeit, der am 15. April 1991 vom Berliner Europacenter stürzte. Stanzeit hatte sechs Jahre lang an einem Genforschungsprojekt zwischen Moskau und dem Kombinat Jenapharm als staatlichem Großunternehmen mitgearbeitet. Dabei war es um Genmanipulation und Blutdoping gegangen und um „Experimente, die an sowjetischen und ostdeutschen Sportlern in entlegenen Trainingslagern vorgenommen worden seien.“ Tatsächlich wurden Athleten vom Oberhofer ASK und aus anderen Klubs regelmäßig zu Lehrgängen nach Minsk und Nowosibirsk verschickt. Stanzeits zurückgelassenen Unterlagen lag auch eine Liste westdeutscher Namen bei, die von der illegalen Forschung Kenntnis hatten.

Forcierte Genforschung

Jenapharm war auf dem Gebiet der Genforschung rege. Bereits im März 1984 verzeichnete die IM-Akte des Forschungsdirektors Dr. Michael Oettel „Forschungen auf dem Gebiet der Gentechnik“. Im gleichen Jahr äußerte er sich über den „hohen Stand der wissenschaftlichen Arbeiten der Genetika“ in der Sowjetunion. Mit drei bis fünf Jahren benannte er den sowjetischen Forschungsvorsprung gegenüber der DDR. Am 31. März 1989 forderte ein Hauptmann der Berliner Hauptabteilung XV der Staatssicherheit vom Justitiar der Berliner Schering AG die „weitere Orientierung auf die Beschaffung interessanter Dokumente zur Konzernstrategie, zu gesetzgeberischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Genforschung und – technologie sowie zur Außenhandelskonzeption.“

Tatsache ist, dass das perfektionierte Staats-Dopingsystem der DDR über die achtziger Jahren hinweg einerseits erodierte: Bis zu 20 Prozent der Sportärzte, insbesondere Frauen, gaben ihr Berufsfeld auf. Auch der Widerstand unter den Athleten gegen die zwangsverordneten Substanzeinnahmen wuchs. Andererseits verweisen die Unterlagen des Geheimdienstes für den genannten Zeitraum auf einen Sprung in eine neue Doping-Ära: illegale Versuche am Menschen, ungeprüfte Kombinationen verschiedenster Substanzen, Blutdoping, Amphetamine, weiterhin Oral-Turinabol und STS 646, B 12, reines Testosteron, Weckamine, Diuretika, Betablocker, psychotrope Substanzen, Nasensprays mit Androstendion, Opiate, Wachstumshormone – die Liste ist endlos. Von den ursprünglich zentralistisch gesteuerten Doping-Konzeptionen im DDR-Leistungssport war nur wenig übriggeblieben. Über das Land hatten sich längst Drogenringe gebildet, finanziert von der Staatssicherheit, von besonders agilen SED-Bezirksleitungen, von notorisch sieghungrigen Sportclubs, von prämienabhängigen Trainern, mitunter auch von erfolgreichen Athleten, die vermeintlich weicheres Doping aus dem Westen mitbrachten, um damit Valuta zu verdienen.

Dokumente im Reißwolf

Forschungen in russischen Archiven könnten klarstellen, mit welchen sowjetischen Präparaten das auf unbedingten Erfolg getrimmte DDR-Sportsystem in den achtziger Jahren herumhantierte. Dasselbe gälte für notwendige Forschung in rumänischen oder bulgarischen Archiven. Schon wegen Höppners eigener IM-Akte – 1986 der letzte Bericht, der vierte, verschwundene Band im Mai 1987 angelegt, die gesamte Akte erst 1989 verplombt – muss seine Aussage im „Stern“ aus dem Jahr 1991 ernst genommen werden: „Nach dem Fall der Mauer wurde die Parole ausgegeben, sämtliche belastenden Papiere zu vernichten. Der nur mündlich weitergegebene Befehl kam von ganz oben. Zwischen November 1989 und April 1990 wanderten fast alle Dokumente in den Reißwolf.“

Dass dem nicht so war, belegen Kilometer an Quellen in der Stasiunterlagenbehörde, die das ostdeutsche Zwangsdoping-System eindeutig belegen. Dessen ungeachtet fehlen Dokumente, insbesondere aus den letzten Jahren der DDR. Auch sind bislang erst in etwa 50 Prozent der Unterlagen der Staatssicherheit zum DDR-Sport ausgewertet worden. Allein bei der Betrachtung zu dem spätestens seit 1983 im DDR-Sport eingesetzten Wachstumshormon Somatropin muss man ins Stocken geraten: Bis 1985 konnte es lediglich als extrahiertes Produkt hergestellt, das heißt aus den Hirnanhangsdrüsen von Leichen gewonnen werden. Die Gefahr, sich dabei mit dem Aids erregenden HI-Virus, mit Hepatitis oder auch Creutzfeldt-Jakob zu infizieren, war extrem hoch. Auch andere Nebenwirkungen waren gravierend: Veränderungen an inneren Organen, Herzmuskelschädigungen, Tumorbildungen, Veränderungen der Physiognomie durch einsetzendes Wachstum, besonders an Kinn, Zähnen, Fingern und Zehen. „1988 ist im DDR-Sport das flächendeckende Doping mit Wachstumshormonen beschlossen worden“, wusste Höppner. Seine Berichte aus dieser Zeit fehlen.

Irreversible Folgen für ein Fünftel der Sportler

Mit dem Öffnen der Archive nach 1989 wurde das Ausmaß des systematischen Betrugs im DDR-Sport aktenfest. Das vermeintliche Sportwunder fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und es warf schwere Schatten, denn es hatte vor allem eins – viele Opfer produziert. Nach DDR-internen Schätzungen waren im Hinblick auf den „Staatsplan 14.25“ bereits bei 20 Prozent der Sportlerinnen und Sportler irreversible Schäden angenommen worden. Die kriminelle Praxis wurde trotz dieses Wissens jedoch nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil radikalisiert, gerade weil in ihr vorsätzliche Körperverletzung sowie geheime Forschung am Menschen zum staatlichen Auftrag erklärt worden war. So berichten Betroffene heute u. a., dass sie in speziellen Forschungsklassen, in den Sportclubs, aber auch am illegalen Forschungsinstitut FKS Leipzig vor allem in den achtziger Jahren für zahllose Menschenversuche herhalten mussten. Und sie berichten endlich auch, was sich unterhalb der vermeintlichen Legitimationsdecke „Staatsplan 14.25“ im DDR-Sport noch dazu ereignet hat, nämlich körperliche Gewalt, Sadismus, sexueller Missbrauch und alle erdenklichen Formen von psychischer Vereinnahmung. Physische, psychische und soziale Schäden, die äußerst multipel, aufgrund des nach wie vor gültigen Clanschweigens im organisierten Sport, aber auch aufgrund des privaten Schuldschweigens erst heute als späte Wunden in ihrem ganzen Umfang sichtbar werden.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte nach den Berliner Doping-Prozessen im Jahr 2000, in deren Folge der Bundesgerichtshof das DDR-Staatsdoping als „mittelschwere Kriminalität“ und „vorsätzliche Körperverletzung“ anerkannte, 2002 ohne Anerkennung einer Rechtspflicht mit dem Doping-Opfer-Hilfegesetz (DOHG) Verantwortung übernommen. Dazu wurde ein bundeseigener Fonds mit einem Umfang von 2 Millionen Euro eingerichtet, aus dem insgesamt 194 Anspruchsberechtigte eine einmalige Hilfe von je 10.500 Euro erhielten. Doch die Schäden erwiesen sich als bleibend, ja, sie wuchsen an. Der Verein Doping-Opfer-Hilfe (DOH) verzeichnete Ende 2014 knapp 700 DDR-Dopinggeschädigte. Ihre Berichte handeln von schweren Organschäden an Herz, Leber, Lunge, Milz, von Schäden an Gefäßen und Knochen, Tumorerkrankungen, Fettstoffwechselerkrankungen sowie von gynäkologischen Schädigungen. In etwa 30 Fällen ist es, wie bisher bekannt, zu Schäden in der zweiten Generation gekommen. Auch die Todesliste ist mittlerweile lang. Die DOH-Datenbank hat bislang knapp 40 an Dopingspätfolgen verstorbene Athletinnen und Athleten verzeichnet.

Aufgrund der ständig steigenden Betroffenenzahl entschloss sich die Bundesregierung im Januar 2016, ein Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz in Höhe von 10,5 Millionen Euro aufzulegen, über das weitere 1000 Geschädigte Hilfe erhalten sollten. Doch es ist absehbar, dass das Kapitel DDR-Sport und Dopingopfer damit nicht ad acta ist. Es ist ein Kollateralschaden, der trotz aller nachgewiesenen Verwerfungen im globalen Spitzensport, alle Züge eines lebenden, dunklen Mahnmals hat, das sich mit seinen vielen belasteten Funktionären, Trainern und Ärzten bis auf Weiteres in den gesamtdeutschen Sport hinein verlängert.

Ergänzend zum Thema

Fernsehbeitrag aus der ARD-Reihe Kontraste zum Thema Doping in der DDR aus dem Jahr 2000

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Autor: Ines Geipel für bpb.de
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