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Postsowjetische Migranten in Deutschland

Datum:

Im Januar 2016 demonstrierten bundesweit bis zu 10.000 Menschen anlässlich der angeblichen Vergewaltigung der damals 13-jährigen Lisa F. aus Berlin-Marzahn durch wahlweise „Ausländer“, „Flüchtlinge“, „Araber“ oder „Südländer“. Da die Demonstrantinnen und Demonstranten je nach Bericht „Russlanddeutsche“, „Russischstämmige“ oder „Menschen russischer Herkunft“ waren und ihrer Mobilisierung eine entsprechende Falschmeldung des Ersten Kanals des russischen Fernsehens vorausgegangen war, verbreitete sich rasch der Verdacht, hier habe der Kreml seine Hand im Spiel gehabt. So schrieb etwa die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), die „russische Propaganda“ wolle die „russischsprachigen Bevölkerungsgruppen in Deutschland (…) missbrauchen, um Druck auf die deutsche Regierung auszuüben“.[1]

Alles „Russischsprachige“?

Die Bezeichnung „russischsprachige Bevölkerungsgruppen“ ist relativ neu im deutschsprachigen Diskurs. Es handelt sich augenscheinlich um eine Übersetzung des russischen Begriffs russkojazyčnye, der in Russland bereits seit den 1990er Jahren von offizieller Seite als Bezeichnung für die „Landsleute“ (sootečestvenniki) im Ausland verwendet wird.[2] Im russischen Kontext sind damit sowohl russischsprachige Minderheiten im „nahen Ausland“ – den ehemaligen Sowjetrepubliken – gemeint als auch Emigranten in westlichen Ländern.

Im deutschen Kontext hat der Begriff ebenfalls eine Doppelfunktion: zum einen als Selbstbeschreibung bestimmter organisierter Personengruppen wie etwa des Bundesverbands russischsprachiger Eltern, zum anderen findet er – wie in dem zitierten NZZ-Artikel – zunehmend Verwendung als Sammelbegriff für verschiedene Zuwanderergruppen aus der ehemaligen Sowjetunion. Schwerpunktmäßig sind damit russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler,[3] jüdische Kontingentflüchtlinge sowie deren Angehörige gemeint – ungeachtet dessen, dass etwa Repräsentanten der organisierten Russlanddeutschen die Bezeichnung „russischsprachig“ für sich vehement ablehnen.[4]

Über die Russischsprachigen in diesem umfassenden Sinne wurde im Nachgang zum „Fall Lisa“ viel geschrieben. An genauerem Wissen über diese heterogene Migrantengruppe mangelt es allerdings. Dies beginnt schon bei der fundamentalen Frage ihrer Größe. In verschiedenen Publikationen finden sich Zahlenangaben von drei bis sechs Millionen Russischsprechern in Deutschland.[5] Die deutschsprachige Wikipedia verbreitet letztere Zahl. Sie wird immer wieder ungeprüft zitiert, obwohl sie sich explizit auf eine Definition des russischen Außenministeriums bezieht, gemäß der Russischsprecher Personen seien, die das Russische „in unterschiedlichem Maße (v toj ili inoj stepeni)“ beherrschten.[6] „Russischsprachig“ impliziert hier also keine muttersprachlichen oder auch nur fließende Kenntnisse des Russischen, von Lese- und Schreibkenntnissen ganz zu schweigen. Damit ist klar, dass die Zahl von sechs Millionen Russischsprechern in Deutschland in jedem Fall übertrieben ist. Aber auch die übrigen Angaben von mindestens drei Millionen russischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland entbehren einer soliden statistischen Grundlage.

In diesem Beitrag sollen die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion daher mit der besser geeigneten Sammelbezeichnung „postsowjetische Migranten“ gefasst werden – ein Begriff, der auf der statistisch erfassten Kategorie des Herkunftslandes basiert und nicht auf dem unscharfen Kriterium der Sprache. Gleichwohl werde ich versuchen, die Zahl der Russischsprecher unter den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten genauer zu fassen, um diesbezüglichen Spekulationen belegbare Daten entgegenzusetzen.

Ziel dieses Beitrags ist es, die unklar konturierte Großgruppe „postsowjetische Migranten“ genauer zu vermessen. Insbesondere über die zahlenmäßig dominanten russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler und ihre Angehörigen liegen wenige verlässliche Daten vor. Bisherige quantitative Forschungen haben die (Spät-)Aussiedler in der Regel als rechtlich definierte Kategorie ohne gesonderte Berücksichtigung der geografischen Herkunft untersucht, also unter Einbeziehung der aus Polen und Rumänien stammenden Deutschen.[7] Erkenntnisse über die Russlanddeutschen lassen sich hieraus nur bedingt ableiten.

Im Folgenden werden daher die materielle und „ideelle“ Situation sowie die Integration der postsowjetischen Migranten in Deutschland im Allgemeinen und der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler im Speziellen skizziert. Dazu werden Daten aus dem Mikrozensus von 2015 analysiert, die ein besseres Verständnis der sozialen Lage der Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR erlauben. In einem weiteren Schritt werden dann auf Grundlage einiger kürzlich erschienener Studien der Sprachgebrauch, der Medienkonsum, die politischen Einstellungen sowie das Verhältnis der postsowjetischen Zuwanderer zu Russland in den Blick genommen – Aspekte, die seit dem „Fall Lisa“ kontrovers, aber wenig faktenbasiert diskutiert wurden.

Unterschiedliche Gruppen und ihre Größe

Die Präsenz postsowjetischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist das Ergebnis von Zuwanderungsbewegungen vor allem der zurückliegenden drei Jahrzehnte. Die gemäß Zuzugsstatistik umfangreichste Kategorie sind die rund 2,3 Millionen (Spät-)Aussiedler aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten, die schwerpunktmäßig seit 1987 in der Bundesrepublik Aufnahme fanden.[8] Es handelt sich hierbei um Russlanddeutsche und ihre oft anders-ethnischen Familienangehörigen. Sie emigrierten in der Regel aus Sibirien oder aus zentralasiatischen Republiken wie Kasachstan und Kirgisien, wo sie infolge der Deportation ihrer Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs seither gelebt hatten.[9]

Seit 1990 fanden auch rund 215.000 Juden oder Menschen jüdischer Abstammung mit ihren Angehörigen Aufnahme in der Bundesrepublik.[10] Sie immigrierten unter einem speziellen Aufnahmeregime und erhielten den Status des „Kontingentflüchtlings“. Sie kamen in den meisten Fällen aus den europäischen Republiken der ehemaligen UdSSR, und dort insbesondere aus großen Städten wie Moskau, Sankt Petersburg, Riga, Kiew, Dnepropetrowsk und Odessa.[11]

Weiterhin leben in Deutschland einige Tausend oder Zehntausend Migranten aus der ehemaligen UdSSR, die durch andere Kanäle in die Bundesrepublik kamen, etwa als Arbeits-, Bildungs- oder Heiratsmigranten oder als Flüchtlinge.[12] Für diese „Anderen“ lässt sich kein scharfes Herkunftsprofil zeichnen. Im Verhältnis zu den genannten Gruppen fallen sie zahlenmäßig kaum ins Gewicht.

Jenseits der Zuzugsstatistiken liefert der Mikrozensus von 2015 aktuelle Daten zur Anzahl der heute in Deutschland lebenden postsowjetischen Migranten.[13] Auf Grundlage dieser Zahlen lässt sich auch abschätzen, wie viele Russischsprecher in Deutschland leben. Die rund drei Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund sind sowohl selbst zugewanderte Personen als auch ein Teil ihrer in Deutschland geborenen Nachkommen (Tabelle 1). Angehörige der zweiten Generation, die nicht mehr mit ihren Eltern in einem Haushalt leben, werden in dieser Kategorie nicht erfasst. Somit ist die Zahl drei Millionen einerseits zu niedrig, wenn wir über die Gesamtheit der Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund sprechen, andererseits ist sie zu hoch, wenn uns die Zahl der Russischsprecher interessiert. Eine sinnvolle Definition von „russischsprachiger Bevölkerung“ in Deutschland kann sich nur auf diejenigen Menschen beziehen, die Russisch auf muttersprachlichem Niveau beherrschen. Dies kann man denjenigen Migranten unterstellen, die selbst noch in der ehemaligen UdSSR gelebt und dort zumindest in Teilen Schulbildung in russischer Sprache erhalten haben. Davon kann man bei den 1,95 Millionen ausgehen, die bei Einreise in die Bundesrepublik mindestens zehn Jahre alt waren. Diese – und nur diese – können wir umstandslos als „Russischsprecher“ bezeichnen.

Jegliche Zahlen darüber hinaus sind spekulativ, denn über die Russischkenntnisse der Nachkommen postsowjetischer Migranten, die im Kindesalter nach Deutschland kamen oder schon hier geboren sind, liegen keine systematischen Erkenntnisse vor. Man kann ihnen jedenfalls nicht automatisch fließende Russischkenntnisse unterstellen, zumal sie in der Regel über keine institutionalisierte Möglichkeit zum Spracherwerb verfügten. Studien in diesem Bereich legen rückläufige Kenntnisse des Russischen bei der zweiten Generation nahe, zumal sich viele russlanddeutsche Eltern bemühten, ihren Kindern bevorzugt das Deutsche nahezubringen.[14] Folglich lässt sich die Anzahl der Russischsprecher in Deutschland realistisch nur als „zwei Millionen plus X“ beziffern, wobei „X“ aufgrund der begrenzten Möglichkeiten und auch des begrenzten Interesses vieler postsowjetischer Migranten an der Vermittlung des Russischen an die nächste Generation auf jeden Fall unter einer Million liegen dürfte. Die Gesamtzahl liegt somit deutlich unterhalb aller verbreiteten Schätzungen.

Soziale Zusammensetzung

Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei den postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland um eine heterogene Gruppe, deren Untergruppen sich nach Rechtsstatus sowie ethnischer und geografischer Herkunft unterscheiden. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland von 18,3 Jahren (Stand 2015) lohnt sich inzwischen auch der Blick auf die seitdem entstandene soziale Differenzierung innerhalb dieser statistischen Großgruppe sowie zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Integration. Auch hierfür bieten die Daten des Mikrozensus von 2015 eine gute Grundlage.

Um einen möglichst differenzierten Blick zu erhalten, werden hier drei Gruppen miteinander verglichen: 1) die Gesamtheit der postsowjetischen Migranten (russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler, Kontingentflüchtlinge und andere); 2) die darin enthaltene Gruppe der Immigranten aus Kasachstan; und 3) die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (die „Einheimischen“). Die Werte für kasachstanstämmige Migranten können hierbei als Näherungswert für die Gruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler gelesen werden – zwar kommen Letztere nicht alle aus Kasachstan, aber fast alle kasachstanstämmigen Menschen in Deutschland sind russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler. Sie bilden somit quasi ein statistisch „reines“ Sample (Stichprobe), das auch deswegen aussagekräftig für die Gesamtgruppe der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler ist, weil nicht von systematischen Unterschieden zwischen (Spät-)Aussiedlern aus Kasachstan und solchen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken auszugehen ist. Alle diese Samples beziehen sich ausschließlich auf die erste Generation von Zuwanderern, da nur für diese die Daten vollständig sind.

Eine für den Integrationsverlauf prinzipiell wichtige Voraussetzung sind die mitgebrachten Bildungsabschlüsse. Hier sieht man bei den postsowjetischen Zuwanderern deutliche Unterschiede innerhalb der Großgruppe wie auch im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (Abbildung 1). Während die postsowjetischen Migranten insgesamt ein besseres formales Bildungsniveau mitbringen als die „einheimische“ Bevölkerung, fällt auf, dass die Zuwanderer aus Kasachstan deutlich seltener Abitur oder Fachabitur haben als die beiden Vergleichsgruppen, dafür umso häufiger das Äquivalent von Real- oder Hauptschulabschluss. Dass die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten hier trotzdem so gut abschneidet, dürfte vor allem dem hohen Bildungsniveau der jüdischen Kontingentflüchtlinge geschuldet sein.[15]

Jedoch übersetzt sich ein höheres Bildungsniveau nicht automatisch in größeren Arbeitsmarkterfolg. Im Gegenteil: Die vergleichsweise weniger hoch gebildeten Kasachstanstämmigen sind seltener erwerbslos und von Transferleistungen abhängig als die Gesamtgruppe der postsowjetischen Migranten (Tabelle 2). Hier bildet sich das oft beklagte Problem ab, dass Zuwanderer mit höherer Qualifikation lange Zeit Schwierigkeiten hatten, ihre Abschlüsse anerkannt zu bekommen.[16] Die hohe Quote von Sozialhilfeempfängern unter den postsowjetischen Migranten sticht besonders hervor. Hier spiegelt sich die Problematik der wachsenden Altersarmut unter Kontingentflüchtlingen sowie unter denjenigen Spätaussiedlern wider, die ihre Arbeitsjahre in der ehemaligen Sowjetunion nicht oder nicht in vollem Umfang angerechnet bekamen und daher im Rentenalter in die Grundsicherung rutschen. Dieses Problem wird sich auf absehbare Zeit noch verschärfen – ein Umstand, auf den auch die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland inzwischen hinweist.[17]

In der Beschäftigungsstruktur derjenigen postsowjetischen Migranten, die sich in Arbeit befinden, fällt die überdurchschnittliche Konzentration insbesondere kasachstanstämmiger Männer im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, Baugewerbe) auf (Tabelle 3). Sowjetunion- und kasachstanstämmige Frauen hingegen arbeiten zu ähnlichen Anteilen wie „einheimische“ Frauen im tertiären Sektor (Dienstleistungsbereich). Bei ihnen fällt wiederum der hohe Anteil von ausschließlich geringfügig Beschäftigten auf, der fast doppelt so hoch liegt wie bei den Frauen ohne Migrationshintergrund. Niedrig ist hingegen der Anteil der Selbstständigen, insbesondere bei den Kasachstanstämmigen. Ihr Anteil liegt nur bei etwa einem Drittel der Quote der „einheimischen“ Bevölkerung, aber auch deutlich niedriger als etwa bei den in der Tabelle 3 nicht aufgeführten türkeistämmigen Migranten (8,8 Prozent).

Ein Vergleich der durchschnittlichen Haushaltseinkommen zeigt nur geringe Differenzen zwischen Haushalten mit mindestens einem postsowjetischen beziehungsweise kasachstanstämmigen Mitglied und Haushalten von Menschen ohne Migrationshintergrund (Abbildung 2). Während sie beim Gesamteinkommen um die 90 Prozent des „einheimischen“ Niveaus erreichen, zeigen sich jedoch deutlichere Unterschiede bei den Haushaltseinkommen pro Kopf, wo die entsprechenden Werte nur bei gut zwei Dritteln liegen. Dies hat mit der Haushaltsgröße zu tun: Postsowjetische Haushalte sind mit 2,43 Personen im Schnitt größer als die der „Einheimischen“, die bei 1,89 Personen liegen. Haushalte von Kasachstanstämmigen bestehen durchschnittlich aus 2,62 Personen. Entsprechend müssen in diesen Haushalten von einem ähnlich hohen Einkommen mehr Münder ernährt werden. Zugleich verweist dieser Umstand auf das erfolgreiche Zusammenlegen mehrerer relativ niedriger individueller Einkommen zu einem ausreichenden Haushaltseinkommen (pooling). So lassen sich auch die erwähnten hohen Anteile ausschließlich geringfügig beschäftigter Frauen erklären, deren Minijobs für sich genommen nicht zum Leben reichen, die aber einen wichtigen Beitrag zum Familienbudget leisten.

An der Streuung der absoluten Haushaltseinkommen über verschiedene Einkommenssegmente lässt sich schließlich sowohl die ökonomische Integration der postsowjetischen Migranten als auch ihre fortgeschrittene Binnendifferenzierung ablesen (Abbildung 3). Die postsowjetische Bevölkerung weist grundsätzlich eine ähnliche Streuung auf wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Auffällig sind allerdings gewisse Verschiebungen: Sowjetunionstämmige und Kasachstanstämmige sind beide im hohen Einkommenssegment über 4.500 Euro unterrepräsentiert. Doch während sich die Differenz bei den Kasachstanstämmigen im Segment direkt darunter (2.600 bis 4.500 Euro) wiederfindet, sind die Sowjetunionstämmigen insgesamt vor allem im sehr niedrigen Segment unter 900 Euro, also am Existenzminimum, überrepräsentiert. Die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sind also in höherem Maße in der Mittelschicht angekommen als die Gesamtgruppe. Zugleich wird deutlich, dass es eine breite Streuung von Lebenslagen gibt, die allzu pauschalisierende Aussagen über die Situation „der“ postsowjetischen Migranten oder auch „der“ Russlanddeutschen nicht zulassen.

Sprachgebrauch

Nach dem „Fall Lisa“ wurde viel über den Sprachgebrauch wie auch den Medienkonsum der postsowjetischen Migranten in Deutschland gemutmaßt. Zu beiden Fragen liefert die im Herbst 2016 erschienene Studie „Russians in Germany“ der Boris-Nemtsov-Stiftung Anhaltspunkte.[18] Mit „Russians“ sind in dieser Untersuchung postsowjetische Migrantinnen und Migranten unterschiedlicher Hintergründe gemeint. Befragt wurden 606 Personen, davon 95 Prozent Angehörige der ersten Migrantengeneration. 78 Prozent der Befragten gaben an, (Spät-)Aussiedler zu sein.

Bezüglich Sprachkenntnissen und Sprachgebrauch kam die Studie zu dem Ergebnis, dass 88 Prozent der Befragten Russisch als Muttersprache (61 Prozent) oder fließend (27 Prozent) beherrschen. Gemäß ihrer Selbsteinschätzung sprechen etwa zwei Drittel der Befragten Deutsch auf muttersprachlichem Niveau (21 Prozent) oder fließend (43 Prozent). 28 Prozent gaben mittelmäßige („intermediate“) Kenntnisse an, 7 Prozent Grundkenntnisse. Insofern ist es nicht überraschend, dass Russisch beziehungsweise ein Mix aus Russisch und Deutsch als Familiensprache überwiegt: 42 Prozent der Befragten sprechen zu Hause vor allem Russisch, 32 Prozent Deutsch und Russisch, 24 Prozent vor allem Deutsch.[19]

Gemischt ist das Bild auch beim Medienkonsum, allerdings mit anderer Gewichtung. Insbesondere seit dem „Fall Lisa“ ist viel davon die Rede gewesen, dass sich die Russlanddeutschen und Russischsprachigen überwiegend aus russischsprachigen Medien informierten und von diesen gegen die deutsche Politik aufgehetzt würden. Die Nemtsov-Studie legt hingegen nahe, dass sich die Befragten aus russisch- und deutschsprachigen Medien informieren, wobei die deutschsprachigen Medien hier zum Teil deutlich überwiegen.[20] Dabei gilt es zu bedenken, dass die Sprache des Mediums noch nichts über den Inhalt aussagt: Auch RT Deutsch ist ein deutschsprachiges Medium, der unabhängige Sender TV Dožd‘ hingegen ein russischsprachiges.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die russische Sprache bei den postsowjetischen Migranten im privaten Bereich noch eine wichtige Rolle spielt; wenn es um Medien und Information geht, dominiert aber zunehmend das Deutsche.

Politische Einstellungen

Angesichts der seit dem „Fall Lisa“ verbreiteten Sorgen um die vermeintliche Anfälligkeit der Russlanddeutschen beziehungsweise Russischsprachigen für Rechtspopulismus lohnt sich schließlich ein Blick auf die (wenigen) vorhandenen Daten zu ihren politischen Einstellungen. Aktuelle Studien relativieren den lange vorherrschenden Befund, dass (Spät-)Aussiedler im Allgemeinen und Russlanddeutsche im Besonderen politisch eher rechts der Mitte zu verorten seien und den Unionsparteien zuneigten.[21] Eine im Oktober 2016 erschienene Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration zu den Parteipräferenzen von Migranten zeigt, dass sich die (Spät-)Aussiedler insgesamt (also nicht nur die Russlanddeutschen) den Präferenzen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund angenähert haben.

Die Studie weist jedoch darauf hin, dass unter den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion die Zustimmungsraten zur Union höher liegen als beim Durchschnitt der (Spät-)Aussiedlerbevölkerung, sie gleichzeitig aber auch stärker der Linken zuneigen. Die bestehenden Differenzen zu den „Einheimischen“ lassen sich somit nicht durchgehend als eine stärkere Verortung rechts der Mitte lesen.

Bemerkenswert sind die erhöhten Zustimmungsraten unter den (Spät-)Aussiedlern zur AfD – wohlgemerkt in einem Erhebungszeitraum (März bis August 2015), als die AfD ihre Wandlung zur populistischen Antiflüchtlingspartei noch nicht vollzogen hatte. Hier handelt es sich um ein starkes Indiz dafür, dass an dem oft gemutmaßten erhöhten Zuspruch der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler zur AfD tatsächlich etwas dran ist. Allerdings ist dieser Zuspruch nicht zwingend als Funktion eines bestimmten „mitgebrachten“ autoritären Politikverständnisses zu interpretieren. Plausibel erscheint vielmehr eine soziale Erklärung: Wie Studien gezeigt haben, findet die AfD überdurchschnittlichen Zuspruch bei Arbeitslosen und Arbeitern sowie Menschen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen.[22] Diese Kategorien sind, wie gesehen, unter den postsowjetischen Migranten und den Russlanddeutschen überrepräsentiert, was auch ihren verstärkten Zuspruch zur AfD wahrscheinlich werden lässt. Hier fehlen allerdings aktuellere Daten, die die Zustimmung zur „neuen“ AfD von Petry und Co. deutlicher abbilden.

Diasporanationalismus?

Seit dem „Fall Lisa“ geistert außerdem immer wieder der Verdacht durch den öffentlichen Raum, dass die postsowjetischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland besonders anfällig für einen russischen „Diasporanationalismus“ seien und sich in diesem Sinne vom Kreml instrumentalisieren ließen. Ohne die Stichhaltigkeit dieses Verdachts hier ausführlich erörtern zu können, sei darauf hingewiesen, dass man in diesem Zusammenhang unbedingt diasporische Praktiken – in den Worten der Forscherin Natalia Kühn: „gelebte Transnationalität“ – und staatliche Diasporapolitik auseinanderhalten sollte. Zur „gelebten Transnationalität“ gehören grenzüberschreitende Familien- und Freundschaftsnetzwerke, die heutzutage insbesondere in der virtuellen Sphäre gepflegt werden können, etwa in den russischsprachigen sozialen Netzwerken wie VK und Odnoklassniki. Dazu gehört auch die Existenz einer lebhaften russischsprachigen Presselandschaft in Deutschland.[23]

Zur staatlichen Diasporapolitik hingegen gehören Russlands seit den 1990er Jahren zu beobachtende Bemühungen um die Vereinnahmung „seiner“ Diaspora im postsowjetischen und zunehmend auch im europäischen Ausland und darüber hinaus. Aus diesem Werben kann man aber nicht zwingend schließen, dass es vonseiten der Emigranten auch erwidert wird, selbst wenn sie an transnationalen Strukturen partizipieren. Dabei ist zu bedenken, dass der Großteil der postsowjetischen Migranten die ehemalige UdSSR nicht als „Russen“ verließ, sondern als Angehörige kulturell russifizierter ethnischer Minderheiten.

Insofern wäre es ein Trugschluss, postsowjetische Herkunft und den Gebrauch der russischen Sprache automatisch mit der Identifikation mit Russland gleichzusetzen. Zugleich ist eine Re-Identifikation der zweiten Generation mit Russland insbesondere im Falle anhaltender Diskriminierung als „Russen“ durchaus denkbar, trotz rückläufiger russischer Sprachkenntnisse. Zwangsläufigkeiten gibt es aber keine. Trotz der Rede von der „Instrumentalisierung“ der „Diaspora“ ist diese kein willenloses Instrument, sondern besteht aus realen Menschen mit eigener Handlungsmacht.

Fußnoten

1.
Christian Weisflog, Wie Putins Propaganda die Russlanddeutschen aufhetzt, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 25.1.2016, http://www.nzz.ch/1.18683335«.
2.
Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1995, S. 142f.
3.
Deutsche Zuwanderer aus Osteuropa wurden gemäß Bundesvertriebenengesetz bis Ende 1992 als Aussiedler bezeichnet, seitdem als Spätaussiedler. Hier sind in der Regel Angehörige beider Kategorien gemeint.
4.
So etwa der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in der Verbandszeitschrift: Waldemar Eisenbraun, Auf ein Wort, in: Volk auf dem Weg 11/2016, S. 3.
5.
Die Zahl von drei Millionen wird genannt von: Natalia Kühn, Die Wiederentdeckung der Diaspora. Gelebte Transnationalität russischsprachiger MigrantInnen in Deutschland und Kanada, Wiesbaden 2012. Karl Schlögel sprach in einem bereits vor dem „Fall Lisa“ erschienenen Beitrag für „Die Zeit“ von „wohl mehr als vier Millionen russischsprachigen Bürgern“ in Deutschland: Stiefmütterchen Berlin, 12.1.2016, http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/russen-in-deutschland-berlin-charlottenburg-russlanddeutsche-wuensdorf«. Im eingangs zitierten NZZ-Artikel ist von sechs Millionen die Rede.
6.
https://de.wikipedia.org/wiki/Russischsprachige_Bevölkerungsgruppen_in_Deutschland«.
7.
Vgl. Susanne Worbs et al., (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht 20, Nürnberg 2013.
8.
Vgl. ebd., S. 30f.
9.
Zu ihrer Geschichte siehe Viktor Krieger, Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler: Eine Geschichte der Russlanddeutschen, Bonn 2015.
10.
Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Migrationsbericht 2014, Berlin 2016, S. 81.
11.
Vgl. Kühn (Anm. 5), S. 167.
12.
Vgl. ebd., S. 144f.
13.
Die im Folgenden genannten Zahlen aus dem Mikrozensus sind entnommen aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015, Wiesbaden 2016.
14.
Vgl. Worbs et al. (Anm. 7), S. 145f.
15.
Vgl. Kühn (Anm. 5), S. 170f.
16.
Vgl. ebd., S. 172; Worbs et al. (Anm. 7), S. 62f.
17.
Vgl. Altersarmut unter den Deutschen aus Russland. Stellungnahme der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, 2.11.2016, http://lmdr.de/stellungnahme_altersarmut«.
18.
Vgl. Boris Nemtsov Foundation, Russians in Germany, Berlin 2016.
19.
Vgl. ebd., Folie 12.
20.
Vgl. ebd., Folie 17.
21.
Vgl. Worbs et al. (Anm. 7), S. 114f.
22.
Vgl. Martin Kroh/Karola Fetz, Das Profil der AfD-AnhängerInnen hat sich seit Gründung der Partei deutlich verändert, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 34/2016, S. 711–719, hier S. 715.
23.
Vgl. Anastasia Kharitonova-Akhvlediani, Russischsprachige Printmedien und Integration, Berlin 2011.
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Autor: Jannis Panagiotidis für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de
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