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Die Massenpsyche und die Verbreitung bodenlos dummer Ideen (Teil 1)

Datum:

 

Gustave Le Bon

Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich begehren, so wollen sie sie doch nicht für lange Zeit. Sie sind ebenso unfähig zu ausdauerndem Wollen wie zum Denken. Gleich dem Wilden läßt sie nicht zu, daß sich zwischen ihre Begierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hindernis erhebt, umso weniger, als ihre Überzahl ihr das Gefühl unwiderstehlicher Macht gewährt. Für den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen.

Nichts erscheint der Masse unwahrscheinlich, und das darf man nicht vergessen, wenn man begreifen will, wie leicht die unwahrscheinlichen Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten.

Der einfachste Vorfall, von der Masse gesehen, ist sofort ein entstelltes Geschehnis. Sie denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. Die Vernunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder, aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusätze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis. Die Masse ist unfähig, das Persönliche von dem Sachlichen zu unterscheiden. Sie nimmt die Bilder, die in ihrem Bewusstsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachtete Tatsache haben, für Wirklichkeit.

Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem erschien, war er sicher nur zuerst von einem von ihnen wahrgenommen worden. Durch Beeinflussung und Übertragung wurde das gemeldetet Wunder sofort von allen angenommen. So vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzinationen, die in der Geschichte so häufig sind.

Ein scharfsinniger Psychologe, Davey, liefert uns dafür ein recht merkwürdiges Beispiel. Er berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein, unter ihnen der hervorragende englische Forscher Wallace, und führte ihnen, nachdem er sie die Gegenstände untersuchen und und beliebig hatte versiegeln lassen, alle klassischen Phänomene des Spiritismus vor: Materialisation von Geistern, Schiefertafelschrift usw. Nachdem er hierauf von diesen berühmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte, in welchen erklärt wurde, die beobachteten Erscheinungen seien nur auf übernatürlichem Wege möglich gewesen, enthüllte er ihnen, daß sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren.

„Das Erstaunliche an diesem Versuch Daveys ist nicht die Bewunderung der Kunststücke als solcher, sondern die außerordentliche Geistlosigkeit der Berichte.“

Die Ereignisse, die von der größten Anzahl an Personen beobachtet wurden, sind sicher am zweifelhaftesten. Aus dem vorherstehenden folgt klar, daß die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen Erklärungen. Hätte uns die Vergangenheit nicht ihre Literaturdenkmäler, ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen, so wüßten wir nicht die geringste Tatsache von ihr. Kennen wir ein einziges wahres Wort über das Leben der großen Männer, die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten? Höchstwahrscheinlich nicht.

Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um. Vom grausamen Gott Jehove der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein großer Schritt, und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug mehr gemein.

Die Gewißheit der Straflosigkeit, die mit der Größe der Menge zunimmt, und das Bewußtsein einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglichen der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem einzelnen unmöglich sind. In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewußtsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.

Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden. Ihnen haben sie stets die größten Denkmäler errichtet. Wenn sie den gestürzten Despoten gerne mit Füßen treten, so geschieht das, weil er seine Macht eingebüßt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird, die man verachtet und nicht fürchtet.

Verknüpfungen ähnlicher Dinge, wenn sie auch nur oberflächliche Beziehungen zueinander haben, und vorschnelle Verallgemeinerungen von Einzelfällen, das sind die Merkmale der Massenlogik. Es ist überflüssig zu bemerken, daß die Unfähigkeit der Massen, richtig zu urteilen, ihnen jede Möglichkeit kritischen Geistes raubt, das heißt, die Fähigkeit, Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden udn ein scharfes Urteil abzugeben.

Das Wunderbare und das Legendäre sind tatsächlich die wahren Stützen einer Kultur. Der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein.

„Ich habe den Krieg ion der Vendée beendigt, indem ich katholisch wurde,“

sagte Napoleon im Staatsrat,

„in Ägypten habe ich dadurch Fuß gefaßt, daß ich mich zum Mohammedander machte, und die italiensichen Priester gewann ich, indem ich ultramontan wurde. Wenn ich über ein jüdisches Volk herrschte, würde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassen.“

Das religiöse Gefühl besitzt sehr einfache Kennzeichen: Anbetung eines vermeintlich höheren Wesens, Furcht vor der Gewalt, die ihm zugeschrieben wird, blinde Unterwerfung unter seine Befehle, Unfähigkeit, seine Glaubenslehren zu untersuchen, die Bestrebung, sie zu verbreiten, die Neigung, alle als Feinde zu betrachten, die sie nicht annehmen. Ob sich ein derartiges Gefühl auf einen unsichtbaren Gott, auf ein steinernes Idol, auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet – sobald es die angeführten Merkmale aufweist, ist es immer religiöser Art.

Für die Massen muss man entweder ein Gott sein oder man ist nichts.

AlexBenesch
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