Imperien mussten über Jahrtausende lernen, narzisstische Überheblichkeit im Zaum zu halten, um nicht einen Realitätsverlust zu erleiden. Napoleon konnte dies besser, als in den meisten Büchern oder in der jüngsten Hollywood-Verfilmung geschildert wird. Hitler konnte es gar nicht. Alexander der Große konnte brillieren und nach seinem Tod zerfiel Griechenland.
Wladimir Putin war seit 1999 eher eine Figur, die mit Worten und Geheimdienstoperationen agierte. Das Gerede brachte ihm Pipeline-Deals und Appeasement; also nur vergängliche Vorteile. Die ersten zehn Jahre blieb er international eher unter dem Radar, abgesehen von dem kleinen, zweiten Tschetschenienkrieg. In der nächsten Phase indoktrinierte er sich selbst und seinen Staat mit einem zaristischen, religiös geschmückten Supermacht-Anspruch. Dafür fehlte ihm das Militär und ab der Krim-Einnahme von 2014 brachen die enorm wichtigen Technologielieferungen aus der Ukraine weg, die nicht am heimischen Markt kompensiert werden konnten.
Seine Genossen hofften darauf, dass der Westen die Sache vergessen und den Gas-Handel wiederaufnehmen würde. Stattdessen orderte Putin die Invasion der Ukraine mit rund 200.000 Truppen an, die dafür gar nicht richtig vorbereitet waren. Strategische Reservetruppen standen nicht bereit. Die Erwartung war ein erfolgreicher Blitzkrieg, der Putin in die Situation gebracht hätte, in der einst Hitler war nach der Einnahme Polens, dem Niederwerfen Frankreichs und der Sicherung des Nachschubs von Öl und Stahl. Hitler erklärte (wohl eher belog) seine Parteigenossen und Generäle, sein Werk sei nun getan. Es würde Jahrzehnte dauern, das gewonnene Territorium zu besiedeln und zu entwickeln. Für größere Aktionen war weder das Militär noch die Rüstungsindustrie geeignet.
Die Sowjetunion hatte noch eine erhebliche Mannstärke, Reservetruppen und eine einheitliche Ideologie. All das fehlt Putin aktuell. Er selbst ist der Kern der Ideologie.
Zu beobachten war seit 2022 ein Zusammenbruch von Ordnung und Disziplin in den Einheiten. Die freiwilligen Rekrutierungsbemühungen der russischen Regierung im Sommer 2022 konnten die Verluste nicht kompensieren, was Moskau dazu veranlasste, im September zur Teilmobilisierung von 300.000 Personen überzugehen.
Alle eingesetzten Soldaten dürfen bis zum Ende der sogenannten speziellen Militäroperation nicht kündigen, und ihre Verträge wurden auf unbestimmte Zeit verlängert. Wenn die Beschränkungen aufgehoben werden, könnte viel Personal einfach keinen Nachfolgevertrag unterschreiben und sich künftig vom Militär fernhalten. Kommt irgendwann eine Zwangsrekrutierung, sind die Männer durch Alkohol, traumatische Störungen und andere Faktoren nicht mehr einsatzbereit.
Mehrere Beobachter stellten fest, dass die USA im Prinzip für jeden investierten Dollar in der Ukraine ein Vielfaches an militärischen Kapazitäten der Russen zerstören. Gerade das langsame liefern von Nachschub und Geld erweckte den Eindruck, die NATO sei nicht gefestigt und Russland könnte mit noch mehr Aufwand vielleicht doch noch den großen Sieg erreichen. Diese „Sunk-Cost-Fallacy“ wird genährt durch Statements von Politikern in den USA und Europa, kein allzu großes Interesse an dem Schicksal der Ukraine zu haben.
Extrem rechte politische Kräfte in Europa wünschen sich die große „Befreiung“ durch Putin, aber jener strampelt sich gerade so stark ab, dass ohne größere geopolitische Verwerfungen keine große Aktion zu erwarten ist. Iran und die Hamas erduldeten kürzlich eine erhebliche Erniedrigung durch Attentate mit wahrscheinlichem israelischen Hintergrund. Israel hat die NATO hinter sich, während Russland sich als Partner der Iraner seit 2022 selbst erniedrigt.
Kaputte Truppe
Kann die aktuelle russische Blut- und Boden-Ideologie die Probleme aufwiegen? Viele Soldaten werden mit schweren körperlichen und geistigen Verletzungen zurückkehren und lebenslange Leistungen und finanzielle Ansprüche benötigen. Die russische Regierung ist nicht in der Lage, mit der großen Zahl an Opfern angemessen umzugehen
In Russland mangelt es an Einrichtungen und ausgebildeten Therapeuten, um schätzungsweise 100.000 Personen oder 20–25 Prozent der Veteranen zu behandeln. Diese Männer werden zu tickenden Zeitbomben in der russischen Gesellschaft und zu einer Abschreckung für andere, die mit dem Gedanken spielen, dem Militär beizutreten.
Groteske Schikanen und Mobbing sind wieder ein größeres Problem und die Regierung versucht mit stalinistischen Methoden die Wahrheit zu verschleiern. Jeder, der im privaten Umfeld Kritik äußert, ist eine Zielscheibe.
Als Strafe für das Rauchen einer Zigarette in seiner Kasernentoilette das russische Wort für „Schwanz“ mit einer Rasierklinge in die Stirn geritzt zu bekommen, brachte das Fass zum Überlaufen für den Gefreiten Artyom Pakhotin. Zwei Wochen später, am 19. April 2018, erschoss er sich während des Drill-Trainings seines Zuges in der Ural-Region Swerdlowsk mit einer AK-74.
https://www.themoscowtimes.com/2020/02/17/decade-after-military-reform-hazing-plagues-russian-army-a69309
Im November 2019 erschoss ein 20-jähriger Wehrpflichtiger acht seiner Kameraden in der Stadt Gorny im Fernen Osten des Landes und sagte, er habe als Vergeltung für Mobbing und eine Vergewaltigungsdrohung gehandelt.
Eine Umfrage im Jahr 2020 ergab, dass 55 Prozent der Befragten angaben, in den letzten sechs Jahren beim Militär irgendeine Art von Schikane erlebt zu haben.
Aufgrund der Annahme, einen Blitzkrieg schnell zu gewinnen, bereiteten die Militärführer viele der Truppen nicht auf ihre bevorstehenden Einsatzaufgaben vor oder informierten sie nicht einmal darüber, was in den ersten Kriegsmonaten zu schweren frühen Verlusten, operativen Rückschlägen und Rückzügen führte. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass Russland seine Ausbildungsprogramme vor der Invasion geändert hat, um die Truppen auf ihre Aufgaben vorzubereiten oder ihre Fähigkeiten zu verbessern.
Anekdoten von russischem Personal deuten darauf hin, dass einige Wehrpflichtige im Herbst 2021 zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen wurden. Laut Angehörigen dieses Personals drohte eine Einheit mit nächtlichen Schlägen, bis ein Vertrag unterzeichnet wurde, und in einer anderen Einheit wurden Wehrpflichtige im östlichen Militärbezirk im Herbst 2021 gezwungen, schwere Kisten zu tragen oder einen Vertrag zu unterschreiben.
Erst Monate nach der Invasion wurde ein einheitliches Kommando geschaffen.
Gouverneure baten darum, ihre regionalen Einheiten direkt zu versorgen; und ein allgemeiner Mangel bestand an lebenswichtigen Vorräten wie Tourniquets und geeigneten Stiefeln oder einsatzfähigen Waffen.
Abweichend von der russischen Doktrin war die Invasionstruppe nicht in eine erste Staffel (Angriffstruppe) und eine zweite Staffel (strategische Reserve) unterteilt. Stattdessen wurden alle Streitkräfte größtenteils zu Beginn der Invasion auf mehrere Angriffsachsen verteilt, ohne dass eine strategische Reserve bereitstand. Unterbesetzte Einheiten und teilweise bemannte Fahrzeuge zu Beginn des Krieges untergruben die Kampfleistung und Überlebensfähigkeit im Gefecht. B
Im Vorfeld der Invasion wurde vielen professionellen Vertragssoldaten aus ganz Russland mitgeteilt, dass sie zu Trainingsübungen geschickt würden, und sie wurden nach Angaben von Soldaten erst drei Tage im Voraus über den Kampfeinsatz informiert. Andere dachten, dass die Einsätze an der ukrainischen Grenze Versuche waren, Zugeständnisse vom Westen zu erzwingen, und nicht für einen tatsächlichen Krieg.
Weißrussen, die den Truppenaufmarsch beobachteten, bemerkten, dass russische Soldaten viel tranken und ihren Dieselkraftstoff verkauften. Laut Feldforschung des Royal United Services Institute wurden sogar Bataillonskommandeure und einige Flaggoffiziere im Generalstab bis wenige Tage im Voraus über die Invasionspläne im Dunkeln gelassen. Infolgedessen hatte ein Großteil der Truppe nur begrenzt Zeit, komplizierte Befehle zu interpretieren, und keine Zeit, sich mit anderen Einheiten abzustimmen.
Die Einheit eines Soldaten geriet außerhalb der Tschernobyl-Zone unter Beschuss und entdeckte, dass die Ukrainer im Vorfeld der Offensive alle Straßenschilder nach Kiew abmontiert hatten, die Einheit jedoch keine Karten erhalten hatte.
Die Logistikkonvois wurden oft angegriffen und konnten die Truppen nicht versorgen. Einige Truppen fanden die Rationen einfach unzureichend und ihre Kommandeure erlaubten ihnen zu plündern. Unzureichende Kleidung führte zu Erfrierungen.
Die Soldaten wurden indoktriniert mit der Haltung, die Ukraine sei ein Werkzeug einer größeren Nazi-NATO-Verschwörung, die es abzuwehren gilt, aber die Akzeptanz in der Truppe ist gering.
Im Oktober 2022 begannen politische Offiziere, eine neue Broschüre an das Personal zu verteilen.
Bei der Invasion 2022 galten zwischen 22 und 27 Prozent derjenigen, die zur Wehrpflicht einberufen wurden, als dienstuntauglich.
Ein Beamter des Verteidigungsministeriums sagte, dass auf 400.000 diensttaugliche junge Männer etwa 600.000 junge Männer kommen die für untauglich erklärt werden. Ein nicht identifizierter russischer Abgeordneter sagte der Moscow Times, Verteidigungsminister Sergej Iwanow habe in einer Rede vor der Staatsduma gesagt, die im Herbst 2001 eingezogenen jungen Männer seien ein „erbärmlicher Haufen, der von Drogenabhängigkeit, psychischen Problemen und Unterernährung gekennzeichnet sei. Statistiken des Verteidigungsministeriums zeigen, dass jeder zweite Wehrpflichtige vor seinem Dienstantritt ein Alkoholproblem hatte und dass jeder vierte Drogenkonsument war.
Das russische Militär scheint inzwischen viele Aufnahmestandards gesenkt zu haben. Um den Pool an Freiwilligen zu erweitern, erhöhte das russische Militär die Höchstaltersgrenze (von 40 auf 65 Jahre) für diejenigen, die sich 2022 freiwillig melden wollten. Die Anforderung eines sauberen Vorstrafenregisters wurde fallengelassen; jetzt sind nur noch Kindesmissbrauch, Hochverrat, Spionage und Terrorismus disqualifizierende Verbrechen. Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung und Mord disqualifizieren jemanden gemäß den Änderungen von 2022 nicht mehr vom Militärdienst.
Während der chaotischen Mobilisierung im September 2022 wurden einige Männer mit Behinderungen oder schlechter Gesundheit mobilisiert, was darauf hindeutet, dass auch die körperlichen Standards gesenkt wurden.
Die russische Bevölkerung wird im 21. Jahrhundert voraussichtlich weiter schrumpfen. Eine Schätzung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 berechnet den Bevölkerungsrückgang Russlands auf irgendwo zwischen den derzeitigen 146 Millionen und 124 Millionen oder auf eine optimistische Zahl von 147 Millionen bis 2050.
Die ersten Wellen des mobilisierten Personals erhielten minderwertige Ausbildung und Ausrüstung und wurden oft nach nur wenigen Tagen oder Wochen Ausbildung in die Ukraine geschickt. Offiziellen Statistiken zufolge flohen mindestens 347.000 Männer im wehrfähigen Alter aus Russland, um der Mobilisierung zu entgehen. Diese Zahl berücksichtigt nicht andere Zielländer, die keine Statistiken zur russischen Auswanderung bereitstellen, sodass die Gesamtzahl wahrscheinlich höher als 347.000 ist.
Die Strafen für Bürger oder Medien, die die Armee „diskreditieren“, wurden auf bis zu 15 Jahre erhöht und somit sind wir bei stalinistischen Verhältnissen angekommen.
Die russische Feldmedizin ist völlig überlastet, was zu mehr lebenslangen Problemen für Veteranen führen könnte. Laut einem russischen Spezialisten für taktische Medizin wurden beispielsweise „mehr als 30 % der Amputationen aufgrund der falschen Anwendung eines Tourniquets durchgeführt“ und „mehr als 50 % aller Todesfälle waren nicht auf lebensbedrohliche Verletzungen zurückzuführen“, sondern auf schlechte Versorgung.
Russland hat seit den 1990er Jahren alle bis auf zehn seiner militärischen psychiatrischen Einrichtungen geschlossen, und nur eine dieser Einrichtungen verfügt über ein Zentrum für physische und psychische Rehabilitation, mit nur 32 Betten laut russischen Veteranenrechtsgruppen. Ein Fachmann glaubt, dass 100.000 Soldaten professionelle medizinische Hilfe benötigen werden, wenn sie aus dem Krieg in der Ukraine zurückkehren.
Die russische Regierung könnte gezwungen sein, auf sozial unakzeptable Optionen zurückzugreifen, wie etwa die Vergrößerung des Wehrpflichtpools und die Verlängerung der Wehrpflichtzeiten, wenn sie angesichts der sich verschlechternden demografischen Entwicklung an dem ziel eines 1,5 Millionen Mann starken Militär festhält.