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Russischer Algorithmus VRYAN sollte über Atomkrieg entscheiden

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Kommentar

Im Kalten Krieg war scheinbare Unberechenbarkeit außerordentlich wertvoll für die USA und die UdSSR. Nicht einmal Generäle oder leitende Funktionäre der Behördengeheimdienste sollten wissen, wann und aus welchen Gründen ein nuklearer Erstschlag stattfinden würde. Denn das Bekanntwerden der eigenen Strategie offenbart der anderen Seite, welche Strategie lohnenswert oder alternativlos ist.

Fast der einzige originelle Gedanke kam von Professor Carroll Quigley in den 1960ern: Er vermutete eine Art heimliches Kartell an der Spitze der Supermächte, weil sich selbst ein begrenzter Atomkrieg überhaupt nicht lohnt, sondern nur gewöhnlichen Ländern die Chance gibt, mächtiger zu werden. Jederzeit konnte ein kleiner Akteur billige biologische Waffen einsetzen wie Super-Smallpox, ohne dass der Urheber des Angriffs entdeckt wird. Den eigenen Status zu bewahren, war für die Supermächte das wichtigere und realistischere Ziel als die alleinige Weltherrschaft.

Das National Security Archive der George Washington University veröffentlichte 2015 eine ehemals streng geheime Studie der US-Geheimdienste aus dem Jahr 1990, die sich um die Einschätzung drehte, wie wahrscheinlich ein Atomkrieg war im Jahr 1983. Die NATO-Großübung „Able Archer“ war speziell entworfen, um maximale Verunsicherung auszulösen. Für die Sowjets (aber nicht deren oberste Führung) sollte es aussehen, als könnte die NATO einen Überraschungsangriff starten unter der Tarnung der Übung.

Der Geheim-Bericht stellte fest, dass die USA fast jedes Anzeichen dafür übersahen, dass die Sowjets dermaßen beunruhigt waren, dass sie den USA zuvorkommen wollten.

Der KGB benutzte ein Computerprogramm namens VRYAN mit einer „Datenbank mit über 40.000 gewichteten Elementen“, um „von Natur aus instabile politische Situationen zu identifizieren, in denen eine Verschlechterung der Sowjetmacht zu einem Erstschlag der USA führen könnte.“

Die Logik war, dass die USA genau dann zuschlagen, wenn die Russen schwach waren. Sobald die Russen sich selbst für zu schwach hielten, wollten sie losschlagen.

Allein für das „Einfügen neuer Daten“ in das System waren über 200 KGB-Mitarbeiter zuständig. Diese Daten bestanden aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen Informationen, die darauf hinweisen könnten, ob die Bedingungen für einen US-Atomangriff reif seien. Ein Großteil der Daten bestand aus geheimen Informationen, die aus der gesamten Sowjetregierung stammten.

Dem Bericht zufolge glaubten die Sowjets, dass die Sowjetunion stark genug sei, um die USA an einem nuklearen Erstschlag zu hindern, wenn VRYAN einen Wert von 60 oder höher erreiche, wobei 70 einen „wünschenswerten Spielraum“ darstelle. Die „kritische Schwelle“ lag bei 40:

„Unterhalb dieser Grenze würde die Sowjetunion als den Vereinigten Staaten gefährlich unterlegen gelten“,

heißt es in dem Bericht. Im Jahr 1984 – inmitten eines tobenden Krieges in Afghanistan, eingefrorener Beziehungen zu den USA und einer rückläufigen Wirtschaft – erzielte VRYAN Werte von 45%.

Wie der Bericht feststellt, ist unklar, welche Rolle VRYAN tatsächlich bei der sowjetischen Entscheidungsfindung spielte. Der Bericht stellt jedoch fest, dass die Sicherheitsentscheidungen des Politbüros in den frühen 1980er Jahren in den Händen einer sehr begrenzten Anzahl von Personen lagen.

Zum Zeitpunkt der Gründung von VRYAN war die Sowjetunion im Falle eines US-Atomangriffs tatsächlich verwundbar und erlebte angesichts der zunehmenden militärischen Stärke der USA einen Rückgang ihrer hypothetischen Zweitschlagfähigkeiten.

Einige in der US-Geheimdienstcommunity hatten argumentiert, dass die Kriegsangst eine massive sowjetische Propaganda- und Täuschungskampagne war. Im Juli 1985 wurde diese Annahme in einer Einschätzung mit dem Titel „Verleugnung und Täuschung in sowjetischen strategischen Militärprogrammen: Auswirkungen auf unsere Sicherheit“ jedoch als falsch eingestuft. Die CIA verfügte über fast keine hohen Quellen innerhalb des Sowjetapparats, also gab es keine Gewissheit.

Der KGB-Überläufer Oleg Gordiyevskiy warnte vor Paranoia in der sowjetischen Führung und im August 1986 brachte die Washington Post Details von Gordiyevskiys Geschichte. Der Artikel zitierte informierte Quellen mit der Aussage, dass viele hochrangige Beamte mit umfassender Erfahrung in den Ost-West-Beziehungen noch immer nichts von Gordiyevskiys Informationen wussten.

Manche West-Geheimdienstler glaubten, dass die Sowjets gezielt ihre tatsächliche Angst über verschiedene Informationskanäle an den Westen durchsickern ließen. Tatsächlich gingen Analysten damals davon aus, dass die Sowjets zuversichtlich waren, dass ihre Streitkräfte nach einem US-Überraschungsangriff zu massiven Vergeltungsschlägen fähig wären – eine Interpretation, die heute als wahrscheinlich falsch angesehen wird.

VRYAN heute

In der aktuellen Phase hat Russland erhebliche Schwächen in alle Bereichen: Der Ukraine-Krieg war ein Fehlschlag, die Wirtschaft ist eingebrochen und selbst die Raketenabwehr samt Abfangsysteme funktionieren wegen Korruption und Investitionsstau nicht genügend. Propagandisten im Russenfernsehen und selbst der ehemalige Staatschef Medwedew reden andauernd über Atomangriffe, was primär die Angst in der russischen Führung öffentlich kommuniziert, und weniger eine Drohung darstellt von einer Position der Stärke aus.

Es ist wahrscheinlich, dass Russland alle möglichen irreführenden und widersprüchlichen Informationen zirkuliert, um die eigenen Absichten zu verbergen. Ein Abdanken Putins würde beispielsweise mehr Chaos erzeugen, oder eine stabilere Ordnung bringen. Russland könnte wieder näher an die NATO herangeführt werden als Gegengewicht zu den Chinesen, usw.

Für den Kreml gibt es aber heute mehr Reaktionsmöglichkeiten als früher: Die Verkündung einer Allianz mit China und Nordkorea und die Benutzung von 500.000 nordkoreanische Soldaten in der Ukraine. Kürzlich bloggte ein russischer Funktionär, der beauftragt ist mit der Mobilisierung von Soldaten, sogar öffentlich über diese Option. Anscheinend war gewollt, dass dieser Gedanke in westlichen Sicherheitskreisen diskutiert wird.

Interessanterweise gab es in der heißen Phase der 1980er Jahre bereits hochrangige Verhandlungen zwischen Washington und Moskau über das Ende der Sowjetunion und die Neuordnung. Nach 1991 dufte russisches Geld an die City of London, man ließ den Russen alles mögliche durchgehen und neue Pipeline-Deals wurden angeleiert.

Es ist möglich, dass die Supermächte heute einen größeren Krieg nur strategisch androhen, damit dann die eigentlich angestrebte Verhandlungslösung in der Öffentlichkeit als attraktiver wahrgenommen wird.

AlexBenesch
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