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Die Wikileaks-Dialektik

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Foto: Espen Moe

Die Plattform Wikileaks kündigte die Veröffentlichung einer Datenmenge an, die siebenmal größer sein soll im Vergleich zu den Irak-Logs. Den üblichen bombastischen Umschreibungen zufolge müsse „die Geschichte umgeschrieben werden“ und nichts werde mehr so sein wie vorher.

Eigentlich verfügen Historiker und Journalisten seit langer langer Zeit über ausführliches Material hinsichtlich der Führung illegaler Angriffskriege, dem Managen von Terror, der Rüstung zukünftiger „Feinde“ und des orchestrierten Diebstahls von Wohlstand aus der Bevölkerung. Das Problem ist eigentlich nicht fehlende Qualität oder Quantität der Daten, sondern die mangelnde Schlagkräftigkeit von Medien die sich außerhalb des Establishment-Systems bewegen. Wir ersticken förmlich in Material über 9/11, den Irak-Krieg, Terrorprogrammen von Regierungen wie P2OG, die Zentralbanken, illegale Waffenforschung, von us-europäischen Unternehmen gebauten Nuklearreaktoren in Nordkorea und so weiter und so fort. Zahlreiche Individuen weltweit bringen seit langer Zeit große persönliche Opfer um an Daten zu gelangen, diese professionell zu analysieren und/oder aufzubereiten. Cryptome.org ist der Pionier unter den Webplattformen, die als eine Art toter Brifkasten fungieren für Whistleblower. Die Selbstdarstellung, dass Wikileaks die Welt verändert hat und der Ingebriff der Aufklärung geworden ist, ist nichts als purer Hype. Selbstverständlich bergen qualitative neue Enthüllungen ein wichtiges Potential; die Hoffnung, dass der neue Wikileaks-Release Daten zu Tage fördert vom Schlag der Climatagate-Emails oder besser ist definitiv vorhanden. Dummerweise sollen die Establishment-Blätter SPIEGEL, der Guardian und die New York Times wieder vorab das Material sichten und für ein Massenpublikum aufbereiten.

Der Spiegel unter anderem entlastete mit diversen Inkompetenztheorien Bush, Cheney, Rumsfeld und Powell und das irreführende Quellmaterial erweckte beim Leser zwangsläufig durch die völlig falschen Zahlen und die selektive Gesamtdarstellung den klaren Eindruck, die Sache im Irak sei es wohl trotz allem Wert gewesen und auch weitere “Friedensmissionen” seien wahrscheinlich vertretbar, wenn sie von “linken” Politikern oder Organisationen wie der UNO verwaltet werden. Die Behandlung von Kriegsgefangenen durch die Amerikaner sei laut NYT eigentlich hinnehmbar gewesen im Vergleich zu den Ausschreitungen von irakischen Gefängniswärtern, der Iran finanziere Aufständische im Irak und verhindert dadurch den Erfolg der Friedensmission und die Anzahl der getöteten Irakis sei insgesamt relativ gering; maximal rund 100.000 Tote seien nach mehreren Jahren an Bombardierungen und anderen Kampfhandlungen zu beklagen gewesen, eher eine Größenordnung von 75.000. Davon seien die meisten “mit Abstand” von anderen Irakis getötet worden. Exakt jene Magazine spielten dem Pentagon auch in die Hände bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Logs; angeblich müsse man nun den Krieg gegen den Terror nach Pakistan ausweiten weil von dort die wichtigste Unterstützung für al-Kaida herrühre. Die Dokumente ließen das Pentagon wohl kaum „vor Wut schäumen“ wie es in diversen Publikationen hieß, vielmehr wird sich wohl schallendes Gelächter unter den Joint Chiefs breitgemacht haben.

Nun wird spekuliert, dass die nächste Wikileaks-Veröffentlichung gestohlene diplomatische Botschaften des US-Außenministeriums enthalten soll. Bislang leugnete Wikileaks-Chef Assange den Besitz dieses Materials obwohl in den Chatlogs zwischen dem Army-Nachrichtendienstanalytiker Bradley Manning und dem Hacker/Regierungsinformaten Adrian Lamo eindeutig davon die Rede ist, eben jene Daten an den „verrückten weißhaarigen Australier“ zu übergeben. Eine einzelne solche Nachricht von der US-Botschaft im isländischen Reykjavik, eher harmloser Natur, wurde im Februar auf Wikileaks als Test veröffentlicht. Manning sprach von 260.000 solchen Meldungen, seine Anklage lautet hingegen auf den Diebstahl von über 150.000 und die Weitergabe von mindestens 50 davon. Ihn erwarten fünfzig Jahre Haft.

Sehr viel Personal unter der Ägide des Pentagons hatte weltweit Zugang zu diesen Datenbanken im Zuge der „Net-Centric Diplomacy“, eine Initiative zum Datentausch über das als lediglich als „geheim“ eingestufte SIPR-Netzwerk. Inwiefern das nur „vertrauliche“ und „geheime“ Material die Welt verändern soll, insbesondere wenn selbst Belangloses schon als top secret gilt, bleibt abzuwarten. Wenn die Qualität tatsächlich enorm hoch ist, können wir uns darauf verlassen dass der SPIEGEL, der Guardian und die New York Times eine Berichterstatung liefern werden die der Agenda der Neuen Weltordnung zuträglich ist. Finanziell profitieren werden ausschließlich Wikileaks und die drei großen Magazine, welche alle enge Verbindungen haben zu den Geheimdiensten und als Sprachrohr für die politischen Kreise fungieren. Sie werden allem Anschin nach wie die letzten beiden Male durch einen wochenlangen Vorsprung vom ersten Moment an die Berichterstattung dominieren können. Bis die alternativen Medien sich auch nur ansatzweise ein Bild verschafft haben über die Millionen an Seiten, ist das Thema in der Öffentlichkeit wieder vergessen.

Die Dialektik scheint folgende zu sein: Man wird von allerhand Leuten mit Schaum vor dem Mund dazu gedrängt, entweder Wikileaks und Assange zuzujubeln oder der Argumentation der US-Administration folgend Whistleblower per se zu verdammen als Sicherheitsrisiko. SPIEGEL, Guardian und NYT formen die scheinbare Synthese, sie berichten zwar ausführlich über das gestohlene Material, geben sich jedoch völlig neutral und präsentieren uns als Kompromiss zwischen den beiden extremen Haltungen einen „Limited Hangout“, einen harmlosen Skandal der niemandem wirklich gefährlich wird. Die Massenmedien haben u.a. wegen ihrer Unterstützung des Irakkrieges massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt und dieser neue Wikileaks-Trend verleiht ihnen wieder den alten Glanz, schließlich ist das Quellmaterial ja von Whistleblowern und die Enthüllung löst „Wutanfälle“ im Pentagon aus. In einem möglichen Szenario werden Bradley Manning, Julian Assange und weitere Beteiligte verhaftet und eingesperrt während ebenjene Establishment-Presse, die so eifrig über das Wikileaks-Material berichtet hatte, salomonisch urteilt: Sie sind zuweit gegangen, aber gleichzeitig darf man Whistleblowing nicht generell verdammen. Als Lösung müsste man den investigativen Journalismus transformieren, revolutionieren, sprich: Eine Farce daraus machen. Politiker weltweit forderten „global einheitliche Standards“ für Berichterstattung und eine Lizenzpflicht für jeden Medienschaffenden. Da man es jungen Medien immer schwerer macht, sich selbst zu finanzieren, sollen ausgewählte Bürger zukünftig im Modell des „partizipativen“ Journalismus u.a. direkt für den SPIEGEL arbeiten. Die Regeln dieses pseudoinvestigativen Journalismus sind klar: Der Spiegel-Redakteur gibt vor, was tabu ist und wie der generelle Rahmen aussieht. Vergangenes Jahr meldete sich bei mir telefonisch eine überaus freundliche Dame, die laut ihren Ausführungen an einem dokumentarischen Programm für den “Kultursender” arte über “Bürgerjournalismus” recherchieren würde. Ursprünglich war man an einem Interview mit mir interessiert (dies wäre nach vier Jahren das erste überhaupt mit den Massenmedien gewesen), später jedoch herrschte aus ungeklärten Gründen Funkstille. Mit ein paar Monaten Verspätung wurde dann “Verloren im Nachrichtendschungel” ausgestrahlt. Der Grundtenor erinnerte frappierend an George W. Bushs berüchtigte Worte: Ihr seid entweder auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen. Wer die Regierung oder sonstwen mit Einfluss  beschuldigt, tue angeblich das Werk von al-Kaida, der Hamas und Ahmadinedschad; diese Terroristen nutzen den unregulierten Bürgerjournalismus derzeit als „Schlupfloch“.

AlexBenesch
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