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Die einzelnen Pfade der Radikalisierung

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In Zeiten von Psychometrie und Computermodellen lässt sich berechnen und simulieren, wer austicken wird oder sich in irgendeiner Form am radikalen Aktivismus oder Terrorismus beteiligen wird. Forscher haben diverse Faktoren identifiziert, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand auf dem Terror-Radar auftauchen wird. Teilweise banale Faktoren, wie viele Gruppensitzungen man besucht hat und je länger man Mitglied einer Gruppe war, bestimmen die Zahl der begangenen Vorbereitungs-Verbrechen, die begangenen terroristischen Vorfälle und strafrechtliche Anklagen. Darüber hinaus deuten qualitative Beobachtungen darauf hin, dass eine anhaltende organisatorische Tätigkeit in Fällen extremer Gewalt am wichtigsten war, wie sie z.B. in Gruppen wie “Im Schwert und im Arm des Herrn“ (CSA), im Orden, im Phineas-Priestertum und in der White Patriot Party beobachtet wurde. Die qualitativ vergleichende, konfiguratorische Analyse bestätigte, dass rechtsextreme, rassistische Organisationen die gewalttätigsten dieser Art von Fällen waren. Die modernen Werkzeuge bieten Regierungen und insbesondere Geheimdiensten bisher unerreichte Möglichkeiten. So lässt sich das Wachstum von Gruppen berechnen, deren Potenzial und wen man als Informanten rekrutieren müsste, um Kontrolle über die Gruppe zu erlangen. Am einfachsten lassen sich junge Männer mit Schwierigkeiten radikalisieren, die Incels, Pleitegeier und isolierten Internetsüchtigen. Es gibt mehr als sechs Millionen 16- bis 24-Jährige in den USA, die weder arbeiten noch zur Schule gehen. Viele von ihnen sind High-School-Abbrecher, Pflegejugendliche und Jugendliche, die in das Justizsystem verwickelt sind. Auf der Suche nach Identität, oder bereits mit einer (künstlichen) Identität ausgestattet, werden Menschen Mitglieder von Gruppen, wo sie entsprechend weiterbearbeitet werden, um die gewünschte neue Identität weiter auszugestalten. Da alles heutzutage vernetzt ist, kann aufgezeichnet werden, wer in wie vielen Gruppen aktiv ist, wie häufig und in welcher Funktion, wer an wie vielen Demos teilnimmt, mit welchen anderen Gruppen man interagiert usw. Früher war es für Geheimdienste mit enormem Aufwand verbunden, an solche Datenmengen zu gelangen. Innerhalb der Gruppe wird der neue Rekrut zunehmend vereinnahmt und aufgehetzt und isoliert von Nichtmitgliedern und Andersdenkenden. Innerhalb der Filterblase hört sich die Doktrin wunderbar plausibel an und es verschieben sich die Maßstäbe von Moral. Prinzipiell kann jeder in einem Kult landen. Es gibt aber auch eine Reihe an gesonderten Risikofaktoren:

  • Frühzeitiges antisoziales Verhalten und emotionale Faktoren wie geringe Verhaltenshemmungen
  • Schlechte kognitive Entwicklung-Hyperaktivität
  • Unzulängliche oder unangemessene Kindererziehungspraktiken
  • Misshandlung und Missbrauch
  • Asoziale Geschichte der Eltern
  • Armut
  • Wiederholte Gewalt in der Familie
  • Scheidung
  • Elterliche Psychopathologie
  • Geringes Maß an positiver elterlicher Beteiligung
  • Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, die sich straffällig oder risikoreich verhalten
  • Weniger positive soziale Chancen aufgrund von Mobbing und Ablehnung.
  • Schlechte schulische Leistungen. Geringes Engagement für die Schule. Geringe Bildungsbestrebungen
  • Soziale Desorganisation in der Gemeinschaft, in der der Jugendliche lebt.
  • Nachbarschaften mit hoher Kriminalität.

Clark McCauley und Sofia Mosalenko’s Buch „Friction: How Radicalization Happens to Them and Us“ identifiziert mehrere soziologische und psychodynamische Pfade, die man unbedingt weiter erforschen muss:

Persönliche Rache

Rachegefühle wegen realen oder vermeintlichen Schäden, den man von einer externen Gruppe bzw. der Obrigkeit zugefügt bekommen hat, sind eine starke Triebfeder. Sie lösen andere psychodynamische Mechanismen aus, wie z.B. ein stärkeres Gruppen-Denken, geringere Hemmungen gegenüber Gewalt und geringere Anreize zur Gewaltvermeidung. Ein gutes Beispiel dafür sind tschetschenische “Schahidka”, auch Schwarze Witwen genannt, Frauen, die Ehemänner, Kinder oder andere enge Familienmitglieder im Konflikt mit den russischen Streitkräften verloren haben. Rache kann aber auch abstrakter funktionieren wegen indirekten oder eingebildeten Schäden, die man erlitten hat. Das Aufwachsen in Armut löst schnell Rachegefühle aus gegen den Staat und die Konzerne und gegen die teilnahmslose Mittelschicht. Narzissten fühlen sich prinzipiell als Opfer und nehmen die Nicht-Erfüllung ihrer überhöhten und unangemessenen Ansprüche als tiefschürfende Gemeinheit wahr. Anhaltende Unzufriedenheit über die Politik im eigenen Land und die individuellen Auswirkungen auf das eigene Leben lösen ebenfalls Rachegefühle aus. Man fühlt sich nicht mehr sicher und optimistisch, erlebt mehr Stress, zahlt mehr Steuern.  

Gruppen-Rache

Die Dynamiken der „Gruppen-Rache” ähneln denen, die durch persönliche Rache ausgelöst werden; der Unterschied besteht darin, dass das Individuum den Schaden wahrnimmt, der einer Gruppe zugefügt wird, der es angehört oder für die es Sympathie hat. Dieser Weg macht den größeren Teil der politischen und ethnischen radikalen Gewalt aus, bei der Maßnahmen im Namen der Gruppe als Ganzes und nicht als persönlicher Racheakt ergriffen werden. Die White Power-Bewegung begreift die gesamte weiße Rasse als Opfer, während Black Lives Matter für Afroamerikaner die Opferrolle beansprucht, und radikale Latinos ihrerseits eine Opfermentalität zelebrieren und Rache schwören gegen die „Gringos“ und „Anglos“. Ganz abstrakt wird es, wenn sich militante Aktivisten für die Rechte von Tieren an Versuchslaboren oder Fleisch-Produzenten rächen. Der Aktivist ist selbst kein Tier, aber er betreibt dennoch Gruppen-Rache. 2020 veröffentlichte der bekannte deutsche Musiker Xavier Naidoo ein Video, in dem er tränenreich seine Überzeugung verkündete, dass Kinder in geheimen unterirdischen Basen missbraucht und getötet werden, um die berauschende Substanz Adrenochrom aus ihnen zu isolieren. Er war im Internet auf die entsprechenden Mythen gestoßen. Wahrgenommene Bedrohungen wie die Anwesenheit ausländischer Besatzungstruppen motivieren die Mehrheit der Selbstmordattentate. Einige Analysten glauben, dass der „Krieg gegen den islamischen Terror“ massenhaft junge Muslime weltweit in die Radikalisierung getrieben hat.

Rutschiger Abhang

Der Begriff “rutschiger Abhang” beschreibt eine allmähliche Radikalisierung durch Aktivitäten, die den sozialen Kreis des Individuums allmählich einengen, seine Denkweise einengen und in einigen Fällen seine Gewaltbereitschaft erhöhen. Dies wurde auch als “True Believer”-Syndrom bezeichnet, als ein Phänomen, bei dem man seine politischen, sozialen und religiösen Überzeugungen immer ernster nimmt, wenn man “den nächsten Schritt macht”. Man kann damit beginnen, sich an gewaltfreien Aktivitäten wie gegenseitiger Hilfe zu beteiligen, wobei der beste Weg, den sozialen Status innerhalb der Gruppe zu erhöhen, darin besteht, Ernsthaftigkeit in Bezug auf die Sache zu demonstrieren und den Grad des Engagements in Bezug auf Überzeugungen und Aktivitäten zu erhöhen. Wenn ein Individuum eine Handlung nach der anderen begeht, wächst der Druck, seine vorhergehenden Entscheidungen zu rechtfertigen. Sitzt man in einer Echokammer, in der Gleichgesinnte sich ständig gegenseitig bestätigen und Widerspruch nicht mehr geduldet ist, geht schnell der Sinn dafür verloren, wo die moralischen und rechtlichen Grenzen liegen. Was heute noch als „normal“ betrachtet wird, ist nächste Woche schon wieder zu soft und ein höheres Maß an Radikalität wird nun als das neue „Normal“ empfunden. Zusammen mit Gleichgesinnten sinken die Hemmschwellen, weil man sich als Teil eines größeren Ganzen begreift und sich verstanden und akzeptiert fühlt.

Liebe

Romantische und familiäre Verstrickung ist ein oft übersehener Faktor der Radikalisierung. Mehrere gewalttätige extremistische Organisationen, vor allem an ihrem Ursprung, verdanken ihre Struktur einer eng verbundenen Gruppe von Freunden, die religiöse, wirtschaftliche, soziale und sexuelle Bindungen teilen. Während dieses Beispiel in extremeren Fällen, wie denen der “Familie” von Charles Manson und anderen radikalen Kulten, offensichtlich ist, gilt es auch für die Radikalisierung in säkularen und orthodoxen religiösen Umfeldern. Liebe kann als Verbindung zwischen einflussreichen Persönlichkeiten dienen, die ihre Anhängernetzwerke durch eine Kombination aus Anziehung und Loyalität miteinander verbinden. Diese besondere Kraft war besonders bemerkenswert in radikalen Gruppen der Neuen Linken, wie dem amerikanischen Weather Underground und der deutschen Roten Armee Fraktion. Die Verbindungen zwischen Bill Ayers und Bernardine Dohrn oder zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader bildeten den organisatorischen und intellektuellen Kern dieser Gruppen.

Risiko und Status

Innerhalb einer radikalen Gruppe bietet risikoreiches Verhalten, sofern es erfolgreich ist, einen Weg zu erhöhtem Status und wird als Tapferkeit und Engagement für die Sache wahrgenommen. Als solche bieten Gewalt oder andere radikale Aktivitäten einen Weg zu Erfolg, sozialer Akzeptanz und materieller Belohnung, was für die Person sonst vielleicht unerreichbar wäre. Ein psychopathischer Radikaler hat keine nennenswerten moralischen Hemmungen und keine normale Wahrnehmung von Risiko, was meistens von Gruppenmitgliedern als Mut und Führungskraft fehlinterpretiert wird. Die unverhältnismäßige Risikobereitschaft und Statussuche gilt insbesondere für junge Männer, die aus benachteiligten Familienverhältnissen stammen, einen niedrigeren IQ haben, einen niedrigeren sozioökonomischen Status haben und daher weniger Chancen haben, auf einem traditionellen Karriereweg in der Gesellschaft erfolgreich zu sein. Es ist wahrscheinlicher, dass diese jungen Männer in Bandenaktivitäten, Gewaltverbrechen und andere risikoreiche Verhaltensweisen verwickelt sind. James Pugel führte eine Studie durch, in der liberianische Ex-Kombattanten angaben, ihre Motivation zur Radikalisierung beruhe auf der Möglichkeit, ihren wirtschaftlichen und sozialen Status innerhalb ihrer Gemeinschaft zu verbessern. Es gab die Überzeugung, dass radikalisierte Personen besser lebten als nicht radikalisierte. Insbesondere boten extremistische Gruppen eine ausgleichende Beschäftigung an, die die Mittel zur Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung und Wohnung bereitstellte. Darüber hinaus bot die Radikalisierung ihrer gesamten Familie Schutz und Sicherheit vor lokaler Gewalt (d.h. Entführungen). All dies trägt zu der Vorstellung von einem erhöhten wirtschaftlichen und sozialen Status innerhalb der Gemeinschaft bei. Andere Forscher wie Alpaslan Ozerdem und Sukanya Podder behaupten, dass Radikalisierung unter bestimmten Umständen “der einzige Weg zum Überleben werden kann, indem sie Schutz vor Folter, Misshandlung und politisch angestiftetem Töten bietet”. Es ist erwähnenswert, dass in einigen Fällen Personen, die sich nicht anschlossen, einer unbegrenzten “unerträglichen sozialen Belastung ausgesetzt waren”.

Enthemmen

Der Verlust der sozialen Bindung kann ein Individuum für neue Ideen und eine neue Identität öffnen, die eine politische Radikalisierung bedeuten kann. Von Freunden, Familie oder anderen Grundbedürfnissen isoliert, kann der Einzelne beginnen, sich mit anderen Netzwerken zu verbinden, zu denen auch politische, religiöse oder kulturelle Radikale gehören können. Dies ist besonders bei der Radikalisierung im Gefängnis zu beobachten, wo sich Individuen über ihre rassische, religiöse und Bandenidentität stärker als in der Außenwelt zusammenschließen und ihre neu gefundene radikale Identität oft über das Gefängnis hinaus mit radikalen Organisationen in der Bevölkerung insgesamt in Verbindung bringen.

Polarisierung

Diskussion, Interaktion und Erfahrung innerhalb einer radikalen Gruppe können dazu führen, dass das Engagement für die Sache insgesamt zunimmt, und in einigen Fällen dazu beitragen, dass sich divergierende Vorstellungen über den Zweck und die bevorzugten Taktiken der Gruppe herausbilden. Innerhalb einer radikalen Gruppe kann eine innere Dynamik zur Bildung verschiedener Fraktionen beitragen, die auf eine innere Desillusionierung (oder umgekehrt auf Ambitionen) in Bezug auf die Aktivitäten der Gruppe als Ganzes zurückzuführen ist, insbesondere wenn es um die Wahl zwischen gewalttätigem Terrorismus und gewaltfreiem Aktivismus geht. Die Spaltung von The Weather Underground und Students for a Democratic Society ist eines von vielen Beispielen. Die Dynamik der Gruppenpolarisierung impliziert, dass sich die Mitglieder dieser größeren Gruppe entweder einer Fraktion anschließen und ihre Loyalität durch weitere Radikalisierung unter Beweis stellen oder die Gruppe ganz verlassen müssen.

Isolation

Die Isolation verstärkt den Einfluss radikalen Denkens, indem sie es radikalen Mitgliedern der Gruppe erlaubt, die Agenda unverhältnismäßig zu beeinflussen. Wenn ein Individuum nur Zugang zu einem gruppeninternen sozialen Umfeld hat, gewinnt diese Gruppe einen totalisierenden Einfluss. Verliert man Sympathien in der Gruppe und es droht der Ausschluss, ist das gleichbedeutend ist mit dem gesellschaftlichen Tod, persönlicher Isolation und dem Wegfall von grundlegenden Dienstleistungen, die die Gruppe bot. Als isolierte Minderheit sind islamische Gruppen im Westen besonders anfällig für diese Form der Radikalisierung. Da sie durch Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und gelegentlich diskriminierende Behandlung von der Gesellschaft als Ganzes abgeschnitten sind, werden muslimische Gemeinschaften anfälliger für zusätzliche Wege der Radikalisierung. Ein besonderer Weg der Radikalisierung von Personen, die sich isoliert fühlen, ist das Internet. Das endlose Meer an politisierten Gruppen und Videos kann eine Person vereinnahmen und dafür sorgen, dass diese Person abseits des Internets seine sozialen Kontakte abbaut. Auf der Grundlage von Daten, die von den Internet World Stats zusammengestellt wurden, behauptet Robin Thompson, dass die Rate der Internetnutzung im Nahen Osten und in Nordafrika im Vergleich zu anderen Ländern “überdurchschnittlich hoch” ist, und in Ländern, in denen das Internet weiter verbreitet ist, werden Einzelpersonen “mit größerer Wahrscheinlichkeit über das Internet rekrutiert und radikalisiert”. Daher lockt das Internet, insbesondere Social-Media-Sites wie Chatrooms und Blogs von Extremisten, “seine Benutzer mit dem Versprechen von Freundschaft, Akzeptanz oder einem Sinn für Ziele an”.

Wettbewerb

Gruppen können sich radikalisieren, wenn sie mit der allgemeinen Bevölkerung und mit ähnlichen Gruppen um Legitimität und Prestige konkurrieren. Radikalität und Provokation erregen Aufmerksamkeit und es entsteht schnell ein Wettbewerb, bei dem sich verschiedene Gruppen gegenseitig übertreffen wollen. Religiöse Bewegungen und die terroristischen Elemente, die sich in ihrem Namen formieren, weisen dieses Merkmal auf.

Jiujitsu-Politik

Jiujitsu-Politik, auch als “Logik der politischen Gewalt” bezeichnet, ist eine Form asymmetrischer politischer Kriegsführung, bei der radikale Gruppen agieren, um Regierungen zu provozieren, gegen die breite Bevölkerung vorzugehen und innenpolitische Spannungen zu erzeugen, die weitere Gewaltaktionen legitimieren. Der Hauptzweck einer radikalen Gruppe, die diese Taktik anwendet, besteht nicht darin, den Feind gänzlich zu vernichten, sondern den Feind dazu zu bringen, politische und ideologische Gemäßigte anzugreifen, sodass die bestehende politische Ordnung ihren Legitimitätsanspruch verliert, während die radikale Gruppe an Legitimität gewinnt. Durch die Vernichtung der Gemäßigten fördern radikale Gruppen eine gespaltene Gesellschaft und nutzen die Reaktionen des Staates auf Gewalt als Rechtfertigung für weitere Gewalt. Ein Beispiel für Jiu-Jitsu-Politik ist die Strategie von Al-Qaida, den Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, in islamische Staaten in Kriege zu locken, die die Umma gegen den Westen polarisieren.

Hass

In langwierigen Konflikten wird der Feind zunehmend als weniger als menschlich angesehen. Dazu gehört die Vereinfachung der Kategorien von Freund und Feind. Der islamistische Gebrauch des Takfirismus zur Rechtfertigung der Ermordung nicht-radikaler Muslime und Ungläubiger ist ein Beispiel dafür. Hannah Arendt skizziert in The Origins of Totalitarianism (Die Ursprünge des Totalitarismus) eine ähnliche Dynamik, die zu den Ideologien des Panslawismus, des Nazismus und des Antisemitismus beigetragen hat, bei der eine Gruppe eine erhabene Selbstidentität für politische Zwecke konstruiert und sich gegen äußere Gruppen mobilisiert, um diese Identität zu festigen. Diese Dynamik des Hasses ist nicht auf rechte Gruppen beschränkt. Die radikalen Linken bezeichneten Polizisten und Regierungsbeamte oft pauschal als “Schweine”, die bestraft und bekämpft werden müssten.

Märtyrertum

Martyrium bedeutet, dass die betreffende Person für eine Sache gestorben ist oder bereit ist, für eine Sache zu sterben. Die symbolische Wirkung des Martyriums variiert von Kultur zu Kultur, aber im Bereich der Radikalisierung bezeichnet die Tat oder das Streben nach dem Martyrium den absoluten Wert der Lebensweise eines Radikalen.

Echte Forschung über die Supermächte vs. klassische Verschwörungs-Medien

Stellen wir uns vor, die Regierung würde eine Art Lockdown ankündigen für das Lesen von Sachbüchern. Quasi “Book Distancing”. Um die Sicherheit der Gesellschaft zu erhöhen, dürfte man künftig nur maximal drei Sachbücher pro Jahr lesen. Ausnahmen gibt es nur mit Sonder-Passierschein in bestimmten Berufen, wo man ein erhöhtes Bedürfnis nachweisen kann. Halten sich nicht genügend Bürger an diese neuen Regeln, droht eine Verschärfung: Nur noch unter Aufsicht in speziellen, von der Regierung designierten Lese-Zentren dürfte dann gelesen werden. Es gäbe sofort einen epischen Aufschrei in der Bevölkerung. Überall würde sich massiver Widerstand formen und die Menschen würden Hamsterkäufe von Büchern machen und sich komplett den neuen Regeln widersetzen. Sachbücher lesen würde als genauso wichtig gelten wie das Atmen. Die westlichen Regierungen sind nicht so dumm, das Bücherlesen zu verbieten. Stattdessen hat man es so eingerichtet, dass fast kein Bürger mehr Sachbücher lesen will. Es gibt ja das Internet mit Netflix, Amazon Prime, Youtube und fiktionale Audiobook-Romane, unzählige (politische) Podcasts und “alternative” Medien und kurze Online-Nachrichtenartikel. Man kann unterwegs in Full HD Netflix schauen, anstatt ein Sachbuch zu lesen, zu denken und sich mit jemand anderem zu unterhalten. Man kann jeden Tag 10 Minuten lang auf Focus.de und ein paar alternativen Blogs verbringen, hauptsächlich nur die Überschriften lesen und sich für informiert halten. Man kann auch, wenn man die Zeit hat, stundenlang vor dem Rechner oder dem Smartphone zubringen und sich zudröhnen lassen von selbsternannten Experten für Verschwörungen mit Abschlüssen von der Youtube-Truther-Universität. Wer braucht schon Sachbücher lesen, fragt sich der Bürger. Kostet doch bloß Zeit. Zehn Stunden aufwenden für ein einziges Sachbuch? Hätte dieser Bürger vor 15 Jahren ein einziges Sachbuch gelesen zu ETF-Investments, wäre er jetzt reich. Hätte er vor 10 Jahren ein gutes Sachbuch gelesen zu Psychologie, hätte er nicht die falsche Person geheiratet und sich nicht auf falsche Freunde eingelassen. Hätte er vor 5 Jahren das richtige Buch gelesen, wäre er jetzt fit. Hätte er vor drei Jahren das richtige Sachbuch gelesen, wäre er nicht auf ideologischen Stuss hereingefallen, der ihm wertvolle Freunde gekostet hat und ihn von Angehörigen isolierte. Jeder Geheimdienstler weiß, dass die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt das wertvollste ist, das es gibt. Deshalb wälzen Geheimdienste auch bergeweise Bücher zu allen möglichen Themen. Irgendwelche muskulösen Agenten, die in der Welt herum jetten und filmreife Missionen durchführen, sind längst nicht so häufig und so wichtig, wie viele Leute glauben. Das Britische (angloamerikanische) Empire war unter anderem deshalb so erfolgreich, weil es die Wissenschaft vereinnahmte und kontrollierte durch die Royal Society. Wie ich in meinem Buch „Der Geführte“ ausführlich darlege, kontrollierten vor Jahrhunderten bereits die verfeindeten Reiche Frankreich und Britannien die Verschwörungsliteratur und nutzten diese für einen Propaganda-Kampf. Frankreich kontrollierte den Vatikan, während sich die Briten eine protestantische Konkurrenzkirche aufgebaut und das Freimaurertum neu konstituiert hatten. In zahlreichen Büchern und Pamphleten und Reden beschuldigten sich beide Seiten der Gottlosigkeit und der niederträchtigen Verschwörungen. Die britische Propaganda verlagerte im Laufe der Zeit den Schwerpunkt von Verschwörungstheorien über jesuitisch-katholische Kreise hin zu Theorien über jüdische Verschwörungen. Aus der kontrollierten Minderheit der Juden machte man kurzerhand eine diabolische Truppe mit wundersamen geheimdienstlichen Fähigkeiten, die die französische Revolution verursacht hätte, durch die Rothschilds die Macht über das britische Empire übernahm ohne irgendwie aufgehalten zu werden, und dann dieses Wunder in den USA noch einmal wiederholte, ohne aufgehalten zu werden. Der gewöhnliche Verschwörungstheoretiker von heute glaubt, in Anlehnung an den Film “Matrix”, die “rote Pille” genommen zu haben und sich außerhalb der Matrix zu bewegen. Er hockt aber dann vor seinem Computer herum und lebt in einer virtuellen Scheinwelt, die konstant mit einem digitalen Netzwerk aus miteinander verbundenen Computern in sein Hirn geladen wird. Die Menschen im Matrix-Film, die noch in der Matrix gefangen sind, haben eine Datenverbindungs-Buchse hinten im Nacken. Für den internetsüchtigen Truther sind sein Bildschirm und seine Lautsprecher die Daten-Verbindungs-Buchse. In dieser Scheinwelt sind die Verschwörungstheoretiker Teil einer besonderen Gruppe, mit besonderem Wissen und einer besonderen Mission zur Befreiung der Welt vor den Kräften des Bösen. In der realen Welt machen sie aber nur Copy & Paste mit diversen Textbausteinen im Internet, warten vergeblich darauf, dass irgendetwas Besonders passiert und vereinsamen zunehmend, was echte menschliche Beziehungen anbetrifft. Die einzigen Schlachten, die sie schlagen, sind nutzlose Streitgespräche auf den sozialen Medien oder mit realen Menschen über Satzbausteine und Ideen aus dem Bereich der gängigen Verschwörungstheorien. Sie kämpfen kein Kung-Fu gegen Agenten der Matrix wie im Film, sie sind nicht die Auserwählten wie Neo, sie haben keinen Zugang zu Orakeln und sie sind nicht Teil einer schlagkräftigen Truppe. In der Truther-Scheinwelt kämpft Russlands Präsident Putin gegen die Kräfte des Bösen und ebenso werkelt Donald Trump mit mysteriösen Mitstreitern daran, die Bösewichter zu bekämpfen. In der Truther-Scheinwelt war Hitler der strahlende Ritter im Kampf gegen die (erfundenen) Weisen von Zion. Wie ist es gelungen, haarsträubenden Stuss in Menschen hineinzuprogrammieren und diesen Menschen gleichzeitig vorzugaukeln, sie seien geistig frei und “außerhalb der Matrix”? Man hat sie abhängig gemacht von einer berauschenden, beruhigenden und zugleich spannenden Fantasie. Man hat ihre Wünsche und Ängste getriggert und bei ihnen Gefühle ausgelöst, die süchtig machen wie Alkohol oder andere Drogen. Sie suchen regelmäßig ihren nächsten Drogen-Fix und benötigen immer höhere Dosen, weil sich ein Gewöhnungseffekt eingestellt hat. Die Drogen-Dealer sind selbsternannte Experten über Verschwörungen, die in aller Regel aber kaum bedeutsames Wissen besitzen, sondern ständig nur altes Material neu aufbereiten und aufwärmen. Die Fake-Experten sind weder richtig gebildet über die Sachthemen, über die sie sprechen, noch sind sie überhaupt gebildet über die Geschichte der Verschwörungsmedien der letzten 200 Jahre. Die wichtigsten Forschungen und Durchbrüche beim Verständnis über Eliten, deren Geheimdienste und Herrschaftstechniken kamen nicht zustande durch gewöhnliche Verschwörungsmedien und Verschwörungstheoretiker, sondern durch Profis; durch Wissenschaftler. Die wirklich relevanten Informationen findet man nicht im Internet. Stellen Sie sich vor, ich würde einen Youtube-Kanal betreiben über das Reparieren und Tunen von Autos, ohne mich damit überhaupt auszukennen. Ich würde einfach vortäuschen, ich könnte auch in meiner eigenen Garage Lamborghinis und Ferraris reparieren und tunen so wie Tavarish oder Samcrac. In Wirklichkeit kann ich gerade einmal bei meinem Explorer selbst die Räder wechseln, oder das Öl wechseln. Ansonsten fehlt mir das Wissen zu Autos. Aber ich würde dem Publikum vortäuschen, ich wäre ein geniehafter Mechaniker-Meister. So in etwa muss man sich die Betrugsmasche der berufsmäßigen Verschwörungstheoretiker vorstellen. Sie wissen nichts, sie können nichts, aber sie tun so als ob. Sie sind klassische Rattenfänger oder Bauernfänger. Sie benehmen sich wie Morpheus in dem Film “Matrix” und berauschen sich an dieser Schauspielerei. Ein Opfer eines solchen Bauernfängers ist nach dem Radikalisierungsprozess nicht mehr nur der latent depressive  oder gelangweilte und frustrierte “Max Mustermann”, sondern hält sich dann für “Max Mustermann, der erleuchtete Krieger des Lichts, auf besonderer Mission zur Rettung der Menschheit vor den satanischen Kräften des Bösen”. Er fühlt sich besonders, er hat eine Mission, einen besonderen Grund zu existieren.

AlexBenesch
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