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Generäle wissen gar nicht wirklich, wie ein Atomkrieg ablaufen würde

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Kommentar

Wenn russische Regierungsfunktionäre mit Pokerface den Einsatz von Atomwaffen offen lassen, um eine schnelle Entscheidung im Ukraine-Krieg zu erzwingen, und im Fernsehen Animationen gezeigt werden, wie auch Berlin, London, und Paris in kürzester Zeit ausgelöscht werden können, dann schindet dies natürlich Eindruck. Aber weder die besten Experten Russlands noch der NATO konnten in den vergangenen 80 Jahren zeigen, dass es überhaupt möglich ist, einen atomaren Krieg mit akzeptablen Verlusten zu führen und zu „gewinnen“.

Selbst die besten Experten, die ihre gesamte Karriere damit verbracht haben, für den Ernstfall zu planen, wissen eigentlich überhaupt nicht, wie ein Atomkrieg funktioniert. Niemand konnte das Rätsel lösen. Selbst wenn sich die Kriegsparteien einigen würden auf den Einsatz von beispielsweise höchstens 50 Atomsprengköpfen (jeweils), wäre nichts wirklich gelöst. Wichtige Einrichtungen wären getroffen, beide Seiten wären geschwächt und könnten sich somit auch weniger behaupten gegen irgendwelche aufstrebenden Konkurrenten. Die Supermächte könnten sogar soweit an Kontrolle verlieren und in interne Streitereien verfallen, dass sie zerbrechen in mehrere Teile.

Alle bekannten, von der Geheimhaltung befreiten Strategiedokumente der NATO und Russlands, zeigen in ihrer Gesamtheit deutlich: Ein heimliches Kartell der Supermächte ist die einzige praktikable Lösung. Ein solches Kartell müsste unbedingt geheim bleiben, weil es ansonsten zerfällt. Um es geheim zu halten, bräuchte es künstliche inszenierte Spannungen, Stellvertreterkriege, abgesprochene Militäraktionen. Vielleicht sogar kleine abgesprochene nukleare Attacken. Theoretisch denkbar wäre auch ein abgesprochener „Weltkrieg light“ an mehreren Schauplätzen, wie etwa Taiwan und Korea.

https://www.files.ethz.ch/isn/108642/warplan_dossier.pdf

Der sowjetische Plan für die Invasion Westeuropas von 1964 ist der erste richtige Kriegsplan aus der Ära der Konfrontation zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt, der bisher ans Licht gekommen ist. Es ist nicht wie so viele andere Dokumente, die Teilbereich erfassen, Grundlagen vermitteln und Dinge andeuten. Die vormals geheime Darstellung der sowjetischen Militärdoktrin durch den Chef des sowjetischen Militärgeheimdienstes, General Petr I. Ivashutin, zeichnet sich durch ihre Deutlichkeit aus. Die Generäle bekamen im Prinzip von weiter oben den Auftrag, aggressive und viel zu optimistische Angriffspläne auszuarbeiten, die nir wirklich umgesetzt wurden. Die Ivashutin-Studie ging davon aus, dass:

• nur eine schnelle Offensive den Erfolg des Warschauer Paktes garantieren könnte,

• die Operation trotz der nuklearen Verwüstung Europas durchführbar war,

• die technisch überlegene sowjetische Luftverteidigung anfliegende NATO-Raketen schon vorher zerstören könnte

• die Sowjetunion eine nukleare Verwüstung besser wegstecken könnte

Alle diese Punkte sind in der Nachbetrachtung grotesk naiv. Der sowjetischen Führung war dieser Umstand wohl bekannt. Die sowjetischen Generäle fantasierten im Detail, sie könnten Lyon innerhalb von zwei Wochen nach Ausbruch der Feindseligkeiten einnehmen. Die NATO-Planer waren zuversichtlich, den Vormarsch des Warschauer Pakts bereits nahe der Ostgrenze Westdeutschlands aufhalten zu können, anstatt wie zuvor entlang des Rheins, des Ärmelkanals oder der Pyrenäen.

Solch unterschiedliche Erwartungen legen nahe, dass keine Seite wirklich wusste, worauf man sich tatsächlich einlassen würde. Der sowjetische Operationsplan gegen Westeuropa berücksichtigte nicht einmal die Möglichkeit, dass die Sowjetunion gleichzeitig durch amerikanische strategische Schläge gelähmt werden könnte. Solche Planspiele sind für die Mülltonne.

Auch das US-Verteidigungsministerium unter Robert S. McNamara und seinem Team an Schlaubergern tat so, als wisse man, wie man einen Atomkrieg zu einem zufriedenstellenden Abschluss führt zu einem akzeptablen Preis. Keines der uns vorliegenden Dokumente zeigt, dass sich die sowjetischen Militärplaner von den Atomwaffenarsenalen des Westens abgeschreckt fühlten. Sie waren dem Trugschluss verfallen, man könne einen gewinnbaren Atomkrieg vorausplanen. Beziehungsweise, sie bekamen einfach von weiter oben den Befehl, solche stupiden Pläne auszuarbeiten.

Der Ehrgeiz, Lyon am 9. Tag des Konflikts zu erreichen, wie im Plan von 1964 skizziert, hatte mit der Realität nicht viel zu tun. In Übungen blieben die Offensivoperationen der ČSLA um den 10. Kampftag bei der Linie Nürnberg-Ingolstadt hängen.

Die Vorstellungen der US-Planer, den Konflikt durch die Einführung von „Schwellenwerten“ und „Pausen“ auf ein vermeintlich akzeptables Maß zu begrenzen, waren ebenso unrealistisch. Denn jeder nukleare Treffer, den man kassiert, erhöht den Druck, zurück zu feuern und das möglichst schnell, weil Schnelligkeit eben viel mehr Erfolg verspricht, und Langsamkeit zu riskant ist, aber dann ist man schnell in einer Eskalation, die beide Supermächte zu Fall bringen kann. Ein Paradoxon. Das einzige, das Sinn ergibt, und zwar jede Menge, ist ein heimliches Kartell der Supermächte.

U.S. Planning for War in Europe, 1963-64

Die Amerikaner planten genauso fleißig wie die Sowjets.

https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB31/index.html

Natürlich gingen hochrangige US-Beamte, wie die entsprechenden Dokumente zeigen, davon aus, dass ein konventioneller oder nuklearer Angriff des Warschauer Pakts auf die NATO-Europa zu einer nuklearen Reaktion der USA führen würde. Hochrangige US-Beamte hielten es für Quatsch, einen Erstschlag kategorisch auszuschließen. Bei bestimmten Anzeichen dafür, dass die Sowjets es ernst meinen, wollte man möglichst schnell losschlagen, um nicht ins Hintertreffen zu gelangen. Womit man aber wieder eine inakzeptable Eskalation ausgelöst hätte.

Ein massiver konventioneller Angriff des Warschauer Pakts auf Westeuropa hätte auch eine nukleare Reaktion von zahlenmäßig unterlegenen westlichen Streitkräften ausgelöst. Totaler Deadlock.

Das amerikanische Net Evaluation Subcommittee (NESC) war ein streng geheimes Unterkomitee des National Security Council, das zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Jahre aktiv war. Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, jährliche Studien zu erstellen, in denen die Auswirkungen eines amerikanisch-sowjetischen strategischen Nuklearkriegs in Bezug auf Gesamtschaden, menschliche Verluste und politisch-militärische Ergebnisse analysiert wurden. Nie gelang es, das Paradoxon zu lösen.

Zum Beispiel beinhaltete SIOP-63 eine Counterforce-Option, die darauf ausgelegt war, einen größeren Atomangriff nur auf Atomwaffenziele des Sowjetblocks zu beschränken – praktisch eine Erstschlagsoption gegen sowjetische Raketensilos. Was hätte garantiert, dass die Sowjets sich in ihrem Gegenschlag ebenfalls beschränken? Nichts. Für einen europäischen Konflikt fantasierten die US-Planer von einem „begrenzten Gegenangriff“, der angeblich „sorgfältig eingeschränkt worden wäre, um den städtisch-industriellen Schaden zu reduzieren“. Ein Briefing von General Gabriel P. Disosway an den stellvertretenden Staatssekretär für politische Angelegenheiten U. Alexis Johnson enthält die wolkigen Annahmen der Air Force, dass die Vereinigten Staaten einen Atomkrieg in Europa nur gewinnen könnten, weil die „Seite, die zuerst zuschlägt, gewinnen wird.“

Llewellyn Thompson, der einflussreichste Experte des US-Außenministeriums für die Sowjetunion in den 1960er Jahren, war damals Vorsitzender eines Sonderausschusses der Staatsverteidigung für politisch-militärische Planung. Man schätzte die Chancen eines sowjetischen konventionellen Angriffs in Mitteleuropa als „gering“ ein. Falls die Sowjets jedoch einen „Griff nach Europa“ versuchen, argumentierte Thompson, dass Washington mit einem strategischen atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion antworten sollte. Thompson gab zu, dass die Vereinigten Staaten dabei „auch verlieren könnten“, und argumentierte, dass ein Erstschlag, einschließlich des sofortigen Einsatzes taktischer Atomwaffen, notwendig wäre, da die Sowjets sonst den gleichen Kurs einschlagen würden. Das heißt, der beste Experte, den die Amerikaner aufbieten konnten, hatte keine Antworten, keine neuen Ideen.

AlexBenesch
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