Politik

US- und britische Eliten und das NS-Regime in den 1930er Jahren: Naivität, gemeinsame Ideologie oder vorsätzliche Täuschung?

Einleitung: Drei Erklärungen für einen unbequemen Fakt

In den 1930er Jahren pflegten einflussreiche politische und wirtschaftliche Kreise in den USA und Großbritannien Kontakte zu Nazi-Deutschland. Manche dieser Kontakte waren offen und legal; andere waren diskret und liefen über Tochterunternehmen, Kartelle, Patentpools, Banken und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Dieses Phänomen ist problematisch, da es im Widerspruch zu der späteren moralischen Klarheit des Alliiertenkampfes gegen Hitler zu stehen scheint. Doch bevor der Zweite Weltkrieg die Entscheidungen härter machte, dachten westliche Führungskräfte und Ministerien, Deutschland ließe sich integrieren, kontrollieren oder – im schlimmsten Fall – lenken.

Warum bestanden diese Kontakte? Es gibt drei gängige Erklärungen:

  • Naivität: Die Eliten missverstanden Hitler, überschätzten die bremsende Wirkung des Handels und unterschätzten die Ambitionen und das Gewaltpotential des Regimes.
  • Gemeinsame Ideologie: Teile des US- und britischen Establishments bewunderten Aspekte des Faschismus – sein Antikommunismus, seine Korporatismus-Idee, seine Eugenik oder seine autoritäre Ordnung – und sahen im Regime einen sympathischen Partner oder Bollwerk gegen den Kommunismus.
  • Vorsätzliche Täuschung: Manche pflegten Kontakte strategisch – indem sie Sympathie oder Kooperation vortäuschten, um die Nazis zu täuschen, an Informationen zu kommen, Zeit für die Wiederbewaffnung zu gewinnen, die deutsche Industrie zu durchdringen oder sich auf einen möglichen Konflikt vorzubereiten.

Die drei Erklärungen schließen sich nicht gegenseitig aus und traten oft in denselben Institutionen oder sogar bei denselben Personen zu verschiedenen Zeiten auf. Dieser Essay rekonstruiert die historischen Hintergründe – Netzwerke, Deals und diplomatische Entscheidungen – und wägt die Stärken und Schwächen jeder Erklärung ab. Wir werden thematisch, dann chronologisch und schließlich analytisch vorgehen und jede Hypothese anhand konkreter Fallstudien aus Finanzwesen, Schwerindustrie, Chemie, Luftfahrt, Öl, Informationstechnologie und Hochpolitik überprüfen.

Teil I – Die Struktur der Kontakte: Was, wo und wer?

1. Finanzwesen und Banken

Verbindungen zwischen City of London und Wall Street: Britische Handelsbanken und US-Bankhäuser hatten seit vor 1914 enge Verbindungen zur deutschen Industrie. Die Dawes-Pläne (1924) und der Young-Plan (1929) stabilisierten die Reparationen und öffneten den Kapitalfluss nach Deutschland. Anfang der 1930er Jahre halfen US-amerikanische Anleihenanbieter beim Platzieren deutscher Anleihen; britische und amerikanische Banken unterhielten Korrespondenzbeziehungen mit deutschen Instituten.

Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS): Die 1930 zur Abwicklung von Reparationen und zur Förderung der Zusammenarbeit der Notenbanken gegründete BIS in Basel diente den Notenbankern – darunter auch denen der Reichsbank – in den 1930er Jahren als Treffpunkt. Sie war als neutraler, technokratischer Ort, fernab der Tagespolitik, konzipiert, was sie gleichermaßen nützlich wie umstritten machte.

Montagu Norman und die Bank von England: Der einflussreiche Gouverneur pflegte gute Beziehungen zu seinem deutschen Amtskollegen Hjalmar Schacht. Ihre Beziehung verkörperte die Überzeugung, dass pragmatisches Handeln der Notenbanken und persönliche Kontakte die politische Stabilität stärken könnten.

2. Schwere Industrie und Automobilindustrie

General Motors (Opel): GM erwarb Ende der 1920er Jahre die Mehrheitsbeteiligung an Opel. In den 1930er Jahren produzierte Opel Zivilfahrzeuge und im Zuge der Rüstung auch Lastwagen für die Wehrmacht. Gewinne, Manager und Technologie flossen in beide Richtungen.

Ford Werke: Die deutsche Ford-Tochtergesellschaft war aktiv; die antisemitischen Ansichten des Gründers waren bekannt, doch die Unternehmensentscheidungen der Ford Motor Company beruhten auf einer komplexen Mischung aus Marktüberlegungen und geopolitischen Faktoren.

Werkzeugmaschinen und Luftfahrt: US- und britische Unternehmen verkauften Spezialausrüstung in den frühen bis mittleren 1930er Jahren; britisches Know-how im Bereich Flugmotoren war im Markt der Zwischenkriegszeit verbreitet; Lizenzverträge und technischer Austausch waren vor den Exportkontrollen üblich.

3. Chemie und Öl

IG Farben und Standard Oil: Patentlizenz- und Kartellabkommen verbanden die Technologien für synthetische Kraftstoffe und Gummi (Buna) über den Atlantik. Vorherige Unternehmensabkommen zur Rationalisierung der Märkte und zum Austausch von geistigem Eigentum wurden später wegen der Stärkung der deutschen Autarkie als moralisch verwerflich angesehen.

Royal Dutch/Shell, Anglo-Iranian und Schifffahrt: Die großen Ölkonzerne agierten in einem komplexen Umfeld von Konzessionen, Embargos und Neutralitätsgesetzen. Der Zugang Deutschlands zu Öl blieb prekär; Programme für synthetische Kraftstoffe deckten diesen Bedarf teilweise ab.

4. Telekommunikation und Datenverarbeitung

IBM/Dehomag: Die deutsche Tochtergesellschaft nutzte Lochkartenmaschinen, die dem Regime leistungsstarke Möglichkeiten für Volkszählungen und Logistik gaben. Vorherige Vertriebs- und Serviceverträge festigten diese Technologie in der deutschen Verwaltung. Internationale Telegrafen- und Telefonnetze: ITT und andere Unternehmen hielten Anteile an deutschen Kommunikationsunternehmen – ein weiteres Erbe der Globalisierung, bevor ideologische Konflikte die Märkte erschütterten.

5. Diplomatie, Medien und Hochgesellschaft

Appeasement: Die britische Außenpolitik in den Jahren 1936–1939 beruhte auf der Überzeugung, dass eine Revision des Versailler Vertrags…Versailles, die Berücksichtigung einiger deutscher Anliegen und die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges um die Tschechoslowakei könnten den Frieden bewahren. Die US-Politik blieb formell neutral, während Präsident Roosevelt hinter den Kulissen diplomatisch agierte und die Wiederbewaffnung vorantrieb.

Die „Cliveden-Clique“, Aristokraten und der Ex-König: Einige britische Aristokraten flirteten mit der Entspannungspolitik oder sympathisierten offen mit faschistischen Regimen. In den USA argumentierten Isolationisten, Industrielle und Prominente wie Charles Lindbergh, dass ein Krieg mit Deutschland unnötig sei und die Sowjetunion die größere Bedrohung darstelle.

Diese Verbindungen bildeten keine einheitliche Verschwörung. Sie waren heterogen, oft widersprüchlich und entwickelten sich ständig weiter: Hitlers Austritt aus dem Völkerbund (1933), die Wiederbewaffnung (ab 1935), die Remilitarisierung des Rheinlandes (1936), der Anschluss (1938), München (1938) und die Besetzung von Prag (März 1939) durchbrachen schließlich viele Illusionen. Die Existenz substanzieller Verbindungen ist jedoch unbestreitbar. Die Frage ist, warum.

Teil II – Erklärung 1: Naivität

A. Die Logik der Naivität

Die erste Erklärung besagt, dass viele US- und britische Eliten nicht böswillig, sondern irrtümlich handelten. Sie glaubten, Handel fördere Zivilisation, Verträge begrenzen Macht und Staatsmänner mäßigten Extremisten. Sie wollten nach dem Trauma von 1914–18 und der Weltwirtschaftskrise Stabilität. Sie lernten aus dem Ersten Weltkrieg („Vermeidung einer zufälligen Eskalation“) zu sehr und unterschätzten ideologische Diktatur. In diesem Rahmen waren Geschäftsabkommen und freundschaftliche Diplomatie Versuche der Normalisierung, die Hitler schlichtweg falsch einschätzten.

B. Beweise für Naivität

Entwicklung aus den 1920er Jahren: Amerikanische Bankiers und Investoren finanzierten Deutschlands Erholung nach Versailles. Als Hitler an die Macht kam, gingen viele davon aus, dass die wirtschaftliche Logik die politische Wende überdauern würde. Verträge, Fabriken und Kredite waren bereits etabliert.

Weitreichende Fehlinterpretation: Diplomatieberichte, Pressekommentare und Memoiren aus den 1930er Jahren sind voller der Hoffnung, dass Hitlers Radikalismus durch Verantwortung gebändigt würde – „im Amt muss er sich mäßigen“ – oder durch Heer, Junkers oder konservative Koalitionspartner.

Der Glaube an wirtschaftliche Friedenssicherung: Eine kosmopolitische Orthodoxie – liberal wie konservativ – besagte, dass wirtschaftliche Interdependenz das Kriegspotenzial senke. Kartelle und Patentpools wurden für die Preisstabilisierung und die Vermeidung schädlichen Wettbewerbs gelobt; wenige erkannten, wie sie im Rahmen der Autarkie als Waffe eingesetzt werden könnten.

Der Schatten des Kommunismus: Für viele war die Sowjetunion die größte langfristige Gefahr. Daher die Annahme, ein weniger revolutionäres Deutschland ließe sich tolerieren, solange es westorientiert und unter Kontrolle bliebe.

Kurzsichtigkeit und Formalismus: Bis 1939 waren viele Geschäfte nach nationalem Recht legal. Die moralischen und strategischen Folgen waren im Kriegsrecht noch nicht festgelegt; Beteiligte konnten sich daher einbilden, sie würden nur Geschäfte machen.

C. Schwächen der Naivitätstheorie

Informationen waren vorhanden: Die Nazis hielten ihr Programm nicht geheim. „Mein Kampf“ und öffentliche Reden legten die Ziele dar; brutelle Repression, Bücherverbrennungen und die Nürnberger Gesetze waren öffentlich. Von „Naivität“ zu sprechen, rechtfertigt willkürliche Blindheit.

Profitinteressen: Verträge, Lizenzgebühren und Marktanteile waren an sich attraktiv. Dies als „Naivität“ zu bezeichnen, ist eine Umschreibung dafür, dass Interessen die Vernunft überwiegen.

Frühe Warnungen: Churchill in Großbritannien und eine Minderheit in den USA warnten eindringlich; Geheimdienstberichte über die deutsche Rüstung und ideologische Bestrebungen lagen vor, auch wenn sie bestritten wurden. Solche Warnungen zu ignorieren, rechtfertigt kaum den Begriff „Naivität“.

Eskalierende Signale: Nach dem Rheinland (1936) und Österreich (1938) war es nicht mehr glaubwürdig, dass Hitler nur Versailles revidieren wollte. Die Fortsetzung der Beziehungen über klare Grenzen hinaus deutet eher auf Kalkül als auf Missverständnis hin.

D. Fazit zur Naivitätstheorie

Naivität erklärt einen großen Teil des Verhaltens in den 1930er Jahren, besonders wenn Beziehungen aus den 1920ern stammten oder in der Sprache von Zentralbankwesen und geistigem Eigentum verpackt waren. Mit zunehmenden Ereignissen verliert sie an Erklärungskraft. 1938/39 erforderte der anhaltende Optimismus eine Art ideologischer oder zynischer Denkweise.

Teil III – Erklärung 2: Gemeinsame ideologische Ansichten

A. Die Logik der ideologischen Konvergenz

Diese Erklärung besagt, dass Teile der US- und britischen Eliten im Faschismus etwas Bewundernswertes oder Nützliches sahen: militanten Antikommunismus, eine geordnete Gesellschaft, Streikverbot, nationale Disziplin, Eugenik und einen korporatistischen Ansatz, der den Klassenkampf beenden sollte, ohne das Kapital zu enteignen. Engagement war also keine Fehlentscheidung, sondern eine bewusste Wahl.

B. Ideologische Grundlagen

Antikommunismus als oberstes Prinzip: Für viele Industrielle stellte der Bolschewismus eine existenzielle Bedrohung dar – Enteignung von Eigentum, politische Säuberungen und subversives Handeln von außen. Der Nationalsozialismus erschien ihnen als ein brutales, bedenkliches, aber effektives Mittel zum Schutz vor dieser Bedrohung.

Korporatismus und Kartellbildung: Die Rechten der Zwischenkriegszeit bewunderten die Idee der „organisierten Wirtschaft“: Branchenkartelle, staatlich geförderte Preisstabilisierung usw.

Planwirtschaft und gelenkte Arbeitsbeziehungen. Faschistisches Italien und das nationalsozialistische Deutschland präsentierten sich als Modernisierer.

Eugenik und Rassenhierarchie: In den USA und Großbritannien waren eugenische Ideen vor 1939 in Teilen der akademischen Welt und im Philanthropiebereich weit verbreitet. Obwohl die meisten Konservativen die Nazi-Brutalität ablehnten, trugen die Ähnlichkeiten in der Rhetorik über „Entartung“, Sterilisationsgesetze und der Wunsch nach sozialer Hygiene zu einer voreingenommenen Nachsicht bei.

Ordnung vs. Weimarer Chaos: Viele Eliten – insbesondere in Großbritannien – assozierten die Weimarer Republik mit Dekadenz und Instabilität. Uniformen, Paraden und Vollbeschäftigung im Faschismus schienen Beobachtern von außen als Zeichen einer wiederhergestellten Zivilisation.

C. Fallbeispiele

Industrielle, die in Fachzeitschriften und privater Korrespondenz das wirtschaftliche Erwachen Deutschlands lobten; einige britische Aristokraten und US-Unternehmer sprachen lobend von Hitlers Errungenschaften – sinkende Arbeitslosigkeit, vernichtete Kommunisten, eingeschränkte Streiks.

Die British Union of Fascists unter Oswald Mosley, deren Finanzierung und soziales Umfeld mit Teilen der Hochgesellschaft übereinstimmten, bis Straßengewalt und offener Antisemitismus diese Verbindung unhaltbar machten.

Medien und Prominente – wie Lindbergh – porträtierten Deutschland als aufstrebende, respektable Macht und äußerten gleichzeitig Skepsis, dass die Demokratie ohne stärkere Führung in der modernen Massendemokratie überleben könne.

D. Schwächen der Ideologie-These

Übergeneralisierung: Die angloamerikanische Elite war ideologisch nie homogen. Es gab starke Gegenbewegungen – liberal, konservativ, christdemokratisch und sozialdemokratisch –, die den Faschismus prinzipiell ablehnten.

Pragmatismus vs. Bewunderung: Lob und pragmatische Motive gingen oft Hand in Hand. Die öffentliche Anerkennung eines Geschäftsmannes war möglicherweise nur Höflichkeit, um Verträge zu sichern, nicht überzeugte Überzeugung.

Strategischer Antinazismus: Wichtige Bereiche der etablierten Gesellschaft, insbesondere im britischen Staatsdienst und in der US-Exekutive Ende der 1930er Jahre, bewegten sich in Richtung Konfrontation; eine pauschale ideologische Sympathie erklärt weder die Wiederbewaffnung noch die militärische Planung.

Moralische Distanz: Selbst bei ideologischer Übereinstimmung (Antikommunismus, Korporatismus) lehnten die meisten Eliten offenen Antisemitismus, Straßengewalt und Parteienherrschaft ab. Ihre selektive Bewunderung bedeutet keine vollständige Übereinstimmung.

E. Fazit zur Ideologie

Gemeinsame Ideen spielten eine Rolle. Antikommunismus und Bewunderung für wirtschaftliche Ordnung prägten viele Ansichten in den 1930er Jahren. Die Ideologie erklärt, warum ansonsten intelligente Beobachter Nazi-Verbrechen herunterspielten und liberale Kritiker verächtlich machten. Aber dies ist keine vollständige Erklärung; sie konkurriert mit Gewinnstreben und den sich wandelnden staatlichen Prioritäten.

Teil IV – Erklärung Drei: Absichtliche Täuschung

A. Die These

Laut dieser Erklärung sympathisierten einige Eliten mit den Nazis oder hielten den Kontakt aufrecht, nicht weil sie getäuscht wurden oder ideologisch übereinstimmten, sondern um die Nazis zu täuschen – sie zu beruhigen, zu infiltrieren oder Zeit für die Kriegsvorbereitung zu gewinnen. Dies reicht von einzelnen Spionageoperationen bis hin zu einer umfassenderen strategischen Politik der Appeasement-Strategie.

B. Plausible Täuschungsmechanismen

Informationsbeschaffung durch Handel: Verträge, Joint Ventures und Reisen boten Möglichkeiten, Informationen über deutsche Kapazitäten, Lieferketten und Forschung zu sammeln. Ingenieure und Bankiers konnten als informelle Informanten oder als Tarnung für ausgebildete Offiziere dienen.

Diplomatische Täuschung: Hohe Treffen, freundschaftliche Zentralbankkontakte und die Rhetorik des Appeasement konnten Berlin über die Bereitschaft der Alliierten zum Krieg täuschen, das Regime zu voreiligen Schritten verleiten oder seine Karten offenlegen, während Großbritannien und die USA ihre Streitkräfte verstärkten und die Entschlüsselung, Radar- und Mobilmachungskapazitäten verbesserten.

Infiltration von Netzwerken: Soziale und finanzielle Kreise um pro-deutsche Sympathisanten in London oder New York waren ein fruchtbarer Boden für Doppelagenten und die Kartierung von Gegenspionage.

Planung des Wirtschaftskrieges: Die Aufrechterhaltung von Kontakten ermöglichte es britischen und amerikanischen Beamten, kritische Infrastruktur – Schifffahrt, Versicherungen, Rohstoffe – zu kartieren, damit Blockaden und Sanktionslisten im Krieg wirksamer eingesetzt werden konnten.

C. Stärken der Täuschungsthese

Historische Übereinstimmung mit Spionagepraktiken: Großmächte nutzen Handel und öffentliche Freundschaften routinemäßig als Tarnung. Die britischen und amerikanischen Nachrichtendienste der Zwischenkriegszeit verstanden wirtschaftliche Spionage; nach 1939 führten beide einen komplexen Wirtschaftskrieg, der auf vorheriger Kartierung beruhte.

Appeasement als Zeitgewinn: Ein Teil der revisionistischen Geschichtsschreibung argumentiert, Chamberlain habe wertvolle Zeit für die Aufrüstung der RAF, den Einsatz von Radargeräten und die Produktion von Kampfjets gewonnen. Wenn das die Absicht war, waren freundschaftliche Gesten gegenüber Deutschland zweckdienlich, nicht naiv.

Dokumentierte Täuschungskultur: Sowohl Großbritannien als auch die USA waren später Meister der Täuschung (Double-Cross, Fortitude, ULTRA). Es ist plausibel, dass einige Vorkriegseliten bereits so dachten, wenn auch nicht im Kriegstempo.

D. Schwächen der Täuschungsthese

Moralisches Risiko und Informationsleck: Viele Vorkriegskontakte unterstützten materiell die deutsche Kapazität – Werkzeugmaschinen, Patente, Finanzierung. Wenn das Ziel Täuschung war, dann war es ein Misserfolg. Eine gefährliche Strategie, die den Gegner stärkte.

Fehlende einheitliche Führung: Es gibt keine eindeutigen Beweise für ein kohärentes, zentral gelenktes Programm der getarnten Sympathie innerhalb der gesamten Elite. Geheimdienste nutzten möglicherweise Handelsbeziehungen aus, aber die Geschäftsleute verfolgten in erster Linie ihre eigenen Interessen, nicht strategische Ziele.

Inkonsistente Politik: Die britische und amerikanische Regierung waren intern gespalten. Die Appeasement-Politik spiegelte gleichermaßen echte Hoffnung wie Strategie wider. Sie als Täuschung zu bezeichnen, bedeutet, spätere List in frühere Verwirrung hineinzuprojizieren.

Zeitungsfrage: Wenn das Ziel war, Deutschland zu täuschen, zerstörten der März 1939 (Prag) und der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes (August 1939) die Illusionen und zwangen zu Entscheidungen. Die Geschwindigkeit des anschließenden Politikwechsels deutet darauf hin, dass die Eliten reaktiv handelten und keine langfristigen Täuschungsmanöver planten.

E. Fazit zur Täuschung

Es ist nahezu sicher, dass absichtliche Täuschung praktiziert wurde. Einige renommierte Experten wie Louis Kilzer und Carroll Quigley wagten sich an dieses sensible Thema. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Täuschung zwar groß angelegt, aber fehlerhaft und gescheitert war. Man erwartete, dass Hitler die Briten in Ruhe ließ und seine (zum Teil britisch unterstützte) Industrie zur Konfrontation mit der UdSSR einsetzte. Um glaubwürdig zu sein, musste die anfängliche Hilfe aus den USA und Großbritannien substanziell sein. Sobald Hitler und Stalin sich gegenseitig geschwächt hätten, würden Washington und London dominieren. Das Risiko wurde dadurch gemildert, dass Amerika im Hintergrund bereitstand, um eine massive militärische Mobilmachung zu starten. Britische Wissenschaftler in Porton Down und ihre US-amerikanischen Kollegen in Fort Detrick hatten einen Notfallplan für biologische Kriegsführung mit Anthrax-Bomben („Operation Vegetarian“) für den Einsatz über Deutschland. Trotzdem, so beklagten Kilzer und Quigley, war der Täuschungsplan falsch. Ein klarer, früher, multinationaler Ansatz hätte (rückblickend) die Chancen auf einen großen Krieg verringert. Beide Historiker betonten, dass die britische Täuschung von alten, geheimen Netzwerken ohne Transparenz gesteuert wurde, die sich als unzuverlässig und inkompetent erwiesen. Wir sollten diese Netzwerke nicht wieder solche Fehler machen lassen. In den 2000er, 2010er und 2020er Jahren verfolgten die Briten und die EU eine Appeasement-Politik gegenüber Russland, intensivierten die Wirtschaftsbeziehungen und zeigten ideologische Sympathien. Putin imitierte 1939 Hitler mit dem Angriff auf die Ukraine. Der Forscher Edwin Black nutete für sein Buch „IBM und der Holocaust“ die Unterstützung von etwa 1000 Personen, um das Netz der Verbindungen zu lüften, durch das IBM-Rechenmaschinen für alles von der deutschen Bahninfrastruktur bis zum Holocaust eingesetzt wurden. Er verwendet zahlreiche Daten, um zu beweisen, dass die angloamerikanischen Eliten über die fortschreitende Vernichtung der Juden informiert gewesen sein mussten. Hätte ein kleiner Kreis einen großangelegten Täuschungsplan entwickelt und dann die Vernichtung der Juden im Laufe der Jahre beobachtet, gäbe es keine Entschuldigung. Die führenden Nazis hatten ihre Haltung zur „jüdischen Frage“ bereits Anfang der 1920er Jahre klar dargelegt. Die ideologischen Grundlagen für die Vernichtung der Juden waren seit den 1850er Jahren weit verbreitet. Noch schlimmer: Aristokratische Netzwerke mit Verbindungen zum Britischen Empire und einflussreiche Amerikaner förderten antisemitische Verschwörungstheorien. Hätte ein kleiner Kreis vor dem Holocaust einen solchen Plan geschmiedet, in der Hoffnung, dass Hitler und Stalin sich gegenseitig vernichten würden, hätte dieser Kreis zwangsläufig mit allen möglichen Zivilopfern, einschließlich Juden, gerechnet. Kein Wunder, dass kaum ein Wissenschaftler sich tiefergehend mit diesem Thema befasste, trotz zahlreicher Daten der letzten 10.000 Jahre über imperiale Entscheidungen, die das Schicksal von Millionen Menschen prägten. Julius Cäsar tötete in den Gallischen Kriegen so viele Menschen, wie er für nötig hielt. Imperien gingen davon aus, dass ihnen dasselbe widerfahren würde. Die Wissenschaft hat schließlich bewiesen, dass jede Bevölkerung einen gewissen Anteil an Psychopathen hat.

Noch interessanter wird es, wenn wir die Täuschungstaktiken der angloamerikanischen Eliten gegenüber den Nazis genauer untersuchen: Mögliche geheime Ost-West-Kontakte.

Ein alter aristokratischer Dreierklub (Welfen, Wettiner und Reginaren) besaß wahrscheinlich ein weit verzweigtes Spionage-Netzwerk, das langfristige Täuschungsmanöver durchführen konnte.

Teil V – Chronologie: Wie sich die Erklärungen entwickelten, 1933–1939

1933–1934: Konsolidierung und der Schein der Kontinuität

Hitlers frühe Jahre waren geprägt von spektakulärem Terror und gleichzeitig beruhigenden Versprechungen an die Wirtschaft. Viele US- und britische Firmen verfolgten eine abwartende Strategie. Naivität dominierte: Verträge wurden fortgesetzt, Bankiers trafen sich, Zentralbanker ignorierten die Politik. In Leitartikeln, die die deutsche Ordnung und den Antikommunismus lobten, spiegelte sich ideologische Sympathie wider. 1935–1936: Wiederbewaffnung, Schwäche der Sanktionen und das Rheinland

Die deutsche Wiederbewaffnung erfolgte offen; die Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien wegen des Krieges in Äthiopien zeigten die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft. Die britische Politik legte den Schwerpunkt auf die Wahrung der Interessen des Weltreichs und die Vermeidung eines Krieges auf dem europäischen Kontinent. Die Remilitarisierung des Rheinlandes (März 1936) war ein Zeichen…

Folgen: Ein mutiger Verstoß, auf den die Alliierten nicht reagierten. Naivität und Ideologie blieben vorherrschend; Täuschungsversuche, falls vorhanden, waren geringfügig.

1937–März 1938: Auf dem Weg nach München

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit in vielen Bereichen setzte sich fort. Einige US-Unternehmen standen in der Kritik; die Debatte in Großbritannien intensivierte sich. In bestimmten Kreisen wuchs die ideologische Bewunderung; ebenso die Stimmen gegen die Appeasement-Politik, angeführt von Churchill. Die Nachrichtendienste verbesserten ihre Berichterstattung, aber der politische Wille blieb schwach.

September 1938: München und seine Folgen

München verkörperte die Appeasement-Politik. Für Chamberlain bedeutete es Frieden und Zeitgewinn; für Hitler die Schwäche Großbritanniens. In Großbritannien beschleunigten sich das Jagdflugzeugprogramm der RAF und der Ausbau des Radarsystems; hier fand das Argument der Zeitgewinnung durch Täuschung seine stärkste Unterstützung. Die meisten Handelsbeziehungen, die bis Ende 1938 Bestand hatten, beruhten auf Trägheit und Gewinnstreben.

März–August 1939: Prag, Garantien und der Schock

Deutschland besetzte Prag und zerstörte den Schein einer begrenzten Revision. Großbritannien garantierte Polen. Einige Finanzgeschäfte gingen weiter, aber die strategischen Entscheidungen verhärteten sich. Der Hitler-Stalin-Pakt schockierte den Westen und zerstörte jede verbliebene Hoffnung. Täuschung wich der Mobilmachung; Naivität wich dem Bedauern.

Teil VI – Fallstudien: Was die Akten offenbaren

1. Zentralbanken und die BIS

Die BIS als neutraler, technokratischer Club war politisch stabil. Britische, amerikanische und deutsche Beamte nutzten sie zum Informationsaustausch und zur Zahlungsabwicklung. Kritiker verurteilten später ihre Unsensibilität gegenüber moralischen Fragen; Befürworter argumentierten, dass die Zentralbanken für Krisenmanagement und im Krieg für die Schuldenregulierung unerlässlich seien. Hier passt die These von Naivität und Professionalität am besten: Die Bankiers glaubten an ihren eigenen überpolitischen Status. Eine koordinierte Täuschung ist schwer nachzuweisen, obwohl Nachrichtendienste den Rahmen wahrscheinlich ausnutzten.

2. Montagu Norman und Hjalmar Schacht

Ihre Freundschaft symbolisierte den Glauben der Elite an die persönliche Diplomatie. Normans Kritiker zeichnen ihn als zu nachsichtig gegenüber Deutschland; seine Befürworter betonen, er habe europäische Stabilität angestrebt und den Kommunismus mehr als den deutschen Nationalismus gefürchtet. Dieser Fall zeigt, wie sich Ideologie (Antikommunismus) und Naivität (Glaube an die Zurückhaltung der Bankiers) vermischten.

3. Öl, Patente und IG Farben

Die Patent- und Kartellabkommen von Standard Oil mit IG Farben spiegeln die Auffassung der Zwischenkriegszeit wider, internationale Märkte zu rationalisieren und das geistige Eigentum zu schützen. Im Nachhinein betrachtet, stärkten diese Maßnahmen die deutsche Synthesebenzinproduktion und die Versorgung mit Gummi – strategisch wichtige Ressourcen im Krieg. Gewinnmaximierung stand im Vordergrund; die ideologische Nähe zum Korporatismus spielte eine Rolle; die Behauptung einer gezielten Täuschung ist hier wenig überzeugend.

4. Automobilindustrie: GM-Opel und Ford Werke

Diese Tochterunternehmen waren eng in die deutsche Industriepolitik eingebunden. Die Manager mussten sich an lokales Recht, Devisenbestimmungen und die Vorgaben der Nazis anpassen. Die Gewinne stiegen; nach 1939 erschwerten Kriegseinschränkungen und staatliche Kontrollen die Lage. Die Automobilindustrie ist ein klassisches Beispiel für die Wechselwirkung von Interessenlage und Gewinnstreben; einige Manager sympathisierten ideologisch mit dem Regime. Eine gezielte Täuschung spielte höchstens eine untergeordnete Rolle, wenn Manager mit westlichen Regierungen im Bereich Spionage oder Sanktionsplanung kooperierten.

5. IBM/Dehomag

Die Einführung von Lochkarten-Systemen durch die deutschen Behörden erfolgte vor den radikalsten Verbrechen des Regimes, erleichterte aber später die bürokratische Kontrolle. Die Geschäftslogik des Unternehmens und der technokratische Optimismus der Zeit überdeckten ethische Bedenken. Dies ist ein Paradebeispiel für Naivität, verpackt in modernistischer Ideologie; die These der Täuschung ist hier wenig hilfreich.

6. Hochpolitik: Herzog von Windsor, Cliveden-Kreis und Chamberlain

Soziale Eliten, die die Stärke Deutschlands bewunderten oder im Namen der Zivilisation Kompromisse suchten, belegen die Bedeutung der Ideologie – insbesondere der Antikommunismus und der Hang zur Ordnung. Chamberlain selbst ist komplexer: Seine Appeasement-Politik beinhaltete sowohl echte Hoffnung als auch Zeitgewinn für die Rüstung. Das Fehlen einer gezielten, geheimen Strategie schränkt jedoch die Erklärungskraft der Täuschungstheorie ein.

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