Einleitung
Terrorismus entsteht nicht aus dem Nichts. Er entsteht dort, wo sich Einzelpersonen und Gruppen zwischen der Dringlichkeit ihrer Sache und der Sinnlosigkeit friedlicher Wege gefangen fühlen. Über Jahrhunderte und Kontinente hinweg wurden Radikale unterschiedlicher ideologischer Hintergründe – militante Islamisten, Rechtsextremisten, linke Revolutionäre und fanatische Klimaaktivisten – von der Überzeugung getrieben, dass die Zeit knapp wird. Diese Dringlichkeit verwandelt Missstände in existenzielle Krisen, und die Überzeugung, dass friedliche Mittel niemals funktionieren, verwandelt Frustration in Gewalt.
Dieser Essay untersucht, wie Dringlichkeit als roter Faden fungiert, der unterschiedliche Formen des Terrorismus verbindet. Anhand islamistischer Radikale, die von der Wiederherstellung eines verlorenen Kalifats träumen, Rechtsextremisten, die sich eine Zivilisation im Belagerungszustand vorstellen, linker Militanter, die den Kapitalismus als immer enger werdende Kette betrachten, und Umweltfanatiker, die vom drohenden Untergang des Planeten überzeugt sind, werden wir sehen, wie Dringlichkeit die Grenze zwischen Dissens und Gewalt verwischt. Die Lektion ist ernüchternd: Wo immer friedliche Kanäle als blockiert wahrgenommen werden, beschleunigt Dringlichkeit den Marsch zum Blutvergießen.
I. Islamistische Radikale: Der Ruf der Ummah
Historische Wurzeln islamistischer Dringlichkeit
Für viele islamistische Radikale beginnt die Dringlichkeit des Handelns mit der Geschichte des Niedergangs. Vor Jahrhunderten erstreckte sich die islamische Welt von Spanien bis Indien und verfügte über enormen Reichtum, Wissenschaft und Einfluss. Heute, so argumentieren Radikale, seien Muslime kolonisiert, gespalten und gedemütigt worden. Sie verweisen auf den westlichen Imperialismus, die Gründung Israels und die korrupten Regime in ihren eigenen Ländern als Zeichen dafür, dass die Ummah – die globale muslimische Gemeinschaft – angegriffen wird. Dieses Gefühl des Verlusts schürt die Dringlichkeit. Für Radikale ist die Geschichte kein langsamer Bogen, sondern ein rasanter Fall. Wenn nicht sofort gehandelt wird, wird der Islam selbst unter der Last ausländischer Herrschaft und inneren Verrats verschwinden.
Die Vereinigten Staaten, der „große Satan“, der nach gängiger Vorstellung der Muslime von einer jüdischen Weltverschwörung kontrolliert wird, werden mit jeder Generation stärker durch technologische Innovationen, die die Kriegslandschaft verändern. Fällt man zu weit zurück, ist das Spiel vorbei.
Die Dringlichkeit der Apokalypse
Viele islamistische Radikale verleihen ihrer Dringlichkeit eine kosmische Dimension. Gruppen wie der IS sprechen in apokalyptischen Begriffen und stellen sich vor, ihre Schlachten seien die Eröffnungsphase eines finalen Krieges zwischen dem Islam und dem Westen. Die Stadt Dabiq in Syrien wurde als Ort des Armageddons mythologisiert. Indem sie ihre Gewalt in göttliche Prophezeiungen einbetten, verwandeln Radikale die Dringlichkeit in heilige Pflicht. Jeder Tag ohne Handeln wird nicht nur zu einem politischen Versagen, sondern zu einem spirituellen Verbrechen.
Sinnlosigkeit friedlicher Mittel
Islamistische Radikale verweisen oft auf das Versagen friedlicher islamistischer Bewegungen. Die Muslimbruderschaft, die teilweise versuchte, durch Wahlen und Sozialprogramme zu agieren, wurde wiederholt von autoritären Regimen zerschlagen. Reformistische Geistliche werden zum Schweigen gebracht oder kooptiert. In ihren Augen können Wahlen nicht mit Kugeln konkurrieren, da das System darauf ausgelegt ist, sie auszuschließen. Dringlichkeit trifft somit auf Sinnlosigkeit: Wenn die Zeit knapp ist und die Politik blockiert ist, erscheint Gewalt als einzige Option.
Fallstudien
- Al-Qaida: Aus dem afghanischen Dschihad gegen die Sowjets hervorgegangen, interpretierte Al-Qaida die amerikanische Militärpräsenz in Saudi-Arabien als existenziellen Notfall. Friedlicher Protest war irrelevant; nur spektakuläre Gewalt wie der 11. September konnte die muslimische Welt aufrütteln.
- ISIS: Im Chaos des Irak und Syriens erklärte der IS, das Kalifat müsse sofort wiederhergestellt werden. Seine Dringlichkeit rechtfertigte Sklaverei, Massenhinrichtungen und selbstmörderische Kriegsführung, allesamt als göttliche Notwendigkeit dargestellt.
II. Rechtsradikale: Die Belagerung des Westens
Angst vor kulturellem Austausch
Rechtsradikale in Europa und Amerika sehen sich als Verteidiger einer bedrohten Zivilisation. Sie sprechen von demografischem Austausch, bei dem Einwanderung und Multikulturalismus traditionelle Identitäten auslöschen sollen. Jeder neue Migrant, jede neue Moschee und jeder kulturelle Wandel wird als Beweis dafür interpretiert, dass die Zeit knapp wird. Für sie wird das Überleben ihres Volkes in Jahren, nicht in Jahrhunderten gemessen. Bestimmte demografische Veränderungen führen innerhalb weniger Generationen zu einer Implosion der traditionellen Bevölkerung.
Dringlichkeit des Niedergangs
Rechtsradikale glauben, sie seien die letzte Generation vor dem Zusammenbruch. Wenn sie nicht handeln, so argumentieren sie, werden ihre Kinder nur Ruinen erben. Dieses Gefühl der Dringlichkeit als letztes Mittel zeigt sich in den Manifesten von Extremisten, die oft davon sprechen, an den Rand des Abgrunds gedrängt zu werden. Die Bilder sind martialisch und verzweifelt: Der Westen wird belagert, die Tore stürzen ein, die Verteidiger sind in der Unterzahl. Der Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh glaubte Anfang der 1990er Jahre, dass die Vereinigten Staaten schon bald von einer Weltregierung belagert würden, die eine „Neue Weltordnung“ einführen, Panzer nach Amerika schicken und Patrioten in Internierungslager einsperren würde. Wir schreiben jetzt das Jahr 2025 und dieses Ereignis Noch ist nichts geschehen. Dennoch lösen das Gewicht der Demokratischen Partei und das Phantom der jüdischen Verschwörung innerhalb der Republikanischen Partei erneut ein Gefühl großer Dringlichkeit aus.
Vergeblichkeit der Politik
Rechtsradikale beschreiben die etablierte Politik oft als hoffnungslos korrupt. Konservative werden als schwach oder mitschuldig gebrandmarkt, Liberale als Verräter. Wählen erscheint in Systemen, die von Eliten, Konzernen oder globalen Verschwörungen dominiert werden, bedeutungslos. Wenn Wahlen keine Veränderung bringen, wächst die Dringlichkeit: Wenn die Wahlurne die Nation nicht retten kann, muss es das Gewehr sein. Donald Trumps erster Präsidentschaftswahlkampf enthielt stark übertriebene Versprechen der Befreiung Amerikas und brachte den Q-Kult und seine kryptischen Prophezeiungen über Pläne zur Verhaftung führender Demokraten hervor. Die Wahlniederlage 2020 motivierte einige Anhänger, das Kapitol zu stürmen, in der Erwartung, Trump würde dann „die Kavallerie schicken“.
Fallstudien
- Bombenanschlag in Oklahoma City (1995): Timothy McVeigh handelte aus der Überzeugung heraus, dass die US-Regierung tyrannisch sei und sofortiger gewaltsamer Widerstand die einzige Option sei.
- Anschläge in Europa: Von Anders Breivik in Norwegen bis zum Attentäter von Christchurch in Neuseeland stellen Manifeste Gewalt als dringende Verteidigung gegen die demografische Vernichtung dar.
III. Linksradikale: Die Revolution, die nicht warten kann
Revolutionäre Tradition
Der Linksradikalismus schöpft aus einer langen Geschichte von Revolutionen. Von den Jakobinern in Frankreich bis zu den Bolschewiki in Russland stellt sich die revolutionäre Tradition vor, dass die Unterdrückten die Macht von den Eliten übernehmen. Im 20. Jahrhundert griffen marxistische und anarchistische Gruppen weltweit diesen Aufruf auf. Sie glaubten, der Kapitalismus sei nicht reformierbar, sondern ein eiserner Käfig, der nur durch Gewalt durchbrochen werden könne. Anhänger fürchten rechte Regime, die nie wieder gestürzt werden können. Dem Marxismus zufolge kann selbst eine normale kapitalistische und bürgerliche Entwicklung nur Elend bringen und den Imperialismus beschleunigen. Selbst ohne eine tatsächliche rechte Diktatur sind Linke in ständiger Angst. Historiker gehen davon aus, dass Adolf Hitler in einem für österreichische Verhältnisse durchschnittlichen und konservativen Haushalt aufwuchs. Daher könnten alle konservativen Familien logischerweise neue Hitlers hervorbringen. Es ist jedoch fraglich, ob Hitlers Kindheit im normalen Rahmen verlief. Die drei Frauen seines Vaters starben früh, und nach modernen Maßstäben würde eine Untersuchung eingeleitet werden. Er heiratete die erste, ältere Frau aus Geldgründen und dann seine jüngere Affäre von früher, und dann wiederholte sich dieser Prozess.
Die Dringlichkeit der Ungleichheit
Für radikale Linke ist jeder Tag im Kapitalismus ein weiterer Tag der Ausbeutung, Armut und des imperialistischen Krieges. Ungleichheit ist kein Problem für zukünftige Generationen, sondern eine aktuelle Krise. Arbeiter werden unterdrückt, die Umwelt zerstört, und imperialistische Armeen verbreiten Elend im Ausland. Diese Dringlichkeit führt zu Ungeduld gegenüber schrittweisen Reformen. Die Revolution muss sofort kommen, denn das Leid von Millionen lässt sich nicht aufschieben. Marx selbst wurde mal für sein Schneckentempo, mal für überstürzte Pläne kritisiert.
Sinnlosigkeit von Reformen
Radikale sehen Gewerkschaften korrumpiert, Parlamente gekapert und die Sozialdemokratie verraten. Jeder Kompromiss wird als weiterer Beweis dafür gesehen, dass friedliche Wege blockiert sind. Reformen sind nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, weil sie die Massen dazu verleiten, Verzögerungen hinzunehmen. Für Radikale bedeutet Dringlichkeit, dass Warten Komplizenschaft ist.
Fallstudien
- Rote Armee Fraktion (Deutschland): Die RAF glaubte, Westdeutschland sei unrettbar faschistisch und erklärte dem Staat den Krieg. Entführungen, Attentate und Bombenanschläge wurden als Auslöser einer Revolution dargestellt.
- Leuchtender Pfad (Peru): Unter der Führung von Abimael Guzmán glaubte diese maoistische Bewegung an eine unmittelbar bevorstehende Revolution und massakrierte Bauern, die Widerstand leisteten. Die Zeit drängte; Gewalt war Schicksal.
IV. Öko-Extremisten und Klimafanatiker: Wettlauf gegen das Artensterben
Die Dringlichkeit des Artensterbens
Keine Radikalen sprechen wörtlicher vom Zeitablauf als Öko-Extremisten. Für sie ist der Klimawandel kein fernes Problem, sondern eine unmittelbar bevorstehende Apokalypse. Schmelzende Gletscher, steigende Meeresspiegel und Massenaussterben werden als Zeichen des endgültigen Zusammenbruchs interpretiert. Jedes Jahr der Untätigkeit ist ein weiterer Nagel im Sarg der Menschheit. Dringlichkeit ist nicht metaphorisch gemeint, sondern global.
Aktivisten wissen nicht, dass die Klimaforschung von den USA und Großbritannien dominiert wird und aus der militärischen Forschung hervorgegangen ist.
Vergeblichkeit friedlichen Aktivismus
Jahrzehntelange Klimakonferenzen, Verträge und friedliche Proteste haben die Emissionen nicht stoppen können. Für Extremisten beweist dies, dass Märsche und Lobbyarbeit nutzlos sind. Politiker zögern, Unternehmen betreiben Greenwashing, und die Öffentlichkeit gähnt. Die Uhr tickt lauter. Die Dringlichkeit gebietet, dass, wenn friedliche Appelle scheitern, Sabotage und Gewalt folgen müssen.
Apokalyptische Rechtfertigung
Ökoextremisten argumentieren, dass Sachbeschädigungen, Bombenanschläge oder gar Angriffe auf Menschen durch das Ausmaß der Krise gerechtfertigt seien. Was ist schon eine Pipeline im Vergleich zu einer ganzen Biosphäre? Was ist schon ein Leben im Vergleich zu Milliarden? Dringlichkeit verzerrt die Verhältnismäßigkeit: Wenn das Ende der Welt nahe ist, r, keine Tat ist zu extrem.
Fallstudien
- Earth Liberation Front (ELF): Beteiligt an Brandstiftung und Sabotage gegen Unternehmen mit der Begründung, die Zerstörung von Eigentum sei notwendig, um den Planeten zu retten.
- Klimabeschleuniger: Neue Gruppen argumentieren, eine Verschärfung der Krise werde den Zusammenbruch beschleunigen und radikale Veränderungen erzwingen.
V. Gemeinsame Muster bei Radikalen
Trotz ideologischer Unterschiede weisen Radikale auffallende Ähnlichkeiten darin auf, wie Dringlichkeit sie zur Gewalt treibt.
- Versperrte Wege: Alle glauben, friedliche Wege seien versperrt – sei es durch korrupte Regime, Komplizen oder eine gleichgültige Öffentlichkeit.
- Syndrom der letzten Generation: Jeder sieht sich selbst als letzte Chance zum Handeln – Muslime vor dem Verschwinden der Umma, Rechte vor dem Aussterben ihres Volkes, Linke vor der Verschärfung des Kapitalismus, Umweltschützer vor dem Untergang der Erde.
- Isolation und Echokammern: Radikale ziehen sich in Netzwerke zurück, die die Dringlichkeit verstärken und mäßigende Stimmen übertönen.
- Sakralisierung der Sache: Dringlichkeit stellt die Sache über das menschliche Leben. Der Tod wird akzeptabel, ja sogar edel, wenn die Zeit knapp ist.
VI. Warum Dringlichkeit Terrorismus hervorbringt
Dringlichkeit ist nicht per se gewalttätig. Doch in Verbindung mit der Wahrnehmung, dass friedliche Methoden sinnlos sind, wird sie explosiv. Dringlichkeit führt psychologisch zu einer Einengung des Blickfelds: Kompromisse erscheinen als Verrat, Geduld als Feigheit. Netzwerke gleichgesinnter Radikaler verstärken diese Logik, indem sie sich gegenseitig einreden, dass Verzögerung Tod bedeutet. Gewalt erscheint dann nicht optional, sondern unvermeidlich.
Terrorismus gedeiht dort, wo Dringlichkeit auf Sinnlosigkeit trifft. Es ist die Verbindung von Verzweiflung und Ausgrenzung. Regierungen, die friedlichen Widerstand blockieren, begünstigen unwissentlich den Boden des Terrorismus, weil sie die Behauptung der Radikalen bestätigen: Es gibt keine Zeit und keinen anderen Weg.
Fazit
Ob islamistische Radikale, die vom göttlichen Krieg träumen, Rechtsextremisten, die den kulturellen Tod fürchten, linke Militante, die ungeduldig auf eine Revolution warten, oder Ökofanatiker, die gegen die Ausrottung rennen – Dringlichkeit ist das Feuer, das das Zögern verbrennt. Die gemeinsame Überzeugung ist immer dieselbe: Friedliche Wege sind versperrt, die Zeit läuft ab, und nur Gewalt bleibt.
Imperien, Staaten und Gesellschaften müssen dieses Muster erkennen. Um Terrorismus zu verhindern, reicht es nicht aus, zu überwachen oder zu bestrafen. Die tiefere Aufgabe besteht darin, echte Wege für einen friedlichen Wandel zu eröffnen und das Fieber der Dringlichkeit zu kühlen, bevor es zu Gewalt wird. Bleibt die Dringlichkeit unerwidert, wird sie, wie die Geschichte zeigt, immer im Blut ihren Ausdruck finden.