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Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland

Datum:

Autoren: Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer für bpb.de

Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt. Ein Blick auf Wanderungen seit dem 17. Jahrhundert zeigt, dass die Migrationsgeschichte des Landes nicht erst mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er Jahren begann.

Wanderungsbewegungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert

Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte in einigen deutschen Gebieten zu starken Zerstörungen und einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Die jeweiligen Landesherren warben daher erwerbsfähige und steuerzahlende Personen aus anderen, z.T. übervölkerten Regionen an, die sich in den kriegszerstörten Gebieten niederlassen sollten („Peuplierungspolitik“). Diese wurden so zu zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Auch Glaubensflüchtlinge aus anderen Teilen Europas zog es ins frühneuzeitliche Deutschland. Die umfangreichste sowie wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Zuwanderergruppe waren die Hugenotten. Nach dem Widerruf des 1598 verkündeten Edikts von Nantes (1685) wanderten 30.000-40.000 von ihnen in deutsche Territorien vorwiegend nördlich des Mains ein (v.a. nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die welfischen Herzogtümer und in die Hansestädte).[1]

Nach diesen Einwanderungsbewegungen, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts anhielten, dominierte bis in die 1830er Jahre die kontinentale Abwanderung nach Ost- und Südosteuropa, bis zum späten 19. Jahrhundert dann die transatlantische Abwanderung, vornehmlich in die USA. Von den 1680er Jahren bis 1800 wanderten rund 740.000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nach Ost-, Ostmittel- und Südeuropa. Zwischen 1816 und 1914 zogen dann rund 5,5 Millionen deutsche Abwanderer[2] in die Vereinigten Staaten. Dort stellte die in Deutschland geborene Bevölkerung 1820-1860 mit rund 30 Prozent nach den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste Einwanderergruppe. Die erhebliche Ausweitung wirtschaftlicher Chancen aufgrund von Hochindustrialisierung und Agrarmodernisierung in Deutschland sowie die Wirtschaftskrise in den USA führten Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zu einem deutlichen Rückgang der transatlantischen Migrationsbewegungen.

Flucht und Zwangsarbeit in und zwischen den Kriegen

Mit und nach dem Ersten Weltkrieg begann das „Jahrhundert der Flüchtlinge“. Die Weimarer Republik wurde zum Ziel Hunderttausender von Flüchtlingen, die vor den Folgen der russischen Oktoberrevolution 1917, dem anschließenden Bürgerkrieg und der Durchsetzung des Sowjetsystems auswichen. Hinzu traten Zehntausende von osteuropäischen Juden, die vor Pogromen und antisemitischen Strömungen in vielen Teilen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas Schutz suchten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Deutschland erneut – wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg – zu einem asylfeindlichen Staat. Außerdem vertrieben die neuen Machthaber rund eine halbe Million Menschen. Das betraf politische Gegner des Regimes, solche, die das Regime dafür hielt und vor allem all jene, die aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu geächteten Fremden in Deutschland erniedrigt und zunehmend verfolgt wurden. Dazu zählten vor allem Juden, von denen wohl 280.000 bis 330.000 zwischen 1933 und 1940 das Reich verließen. Etwa 195.000 deutsche Juden, die nicht (mehr) fliehen konnten, wurden bis Kriegsende ermordet, nur rund 15.000 bis 20.000 überlebten die Lager oder versteckt im Reichsgebiet. Aufnahme für die Fliehenden gewährten weltweit mehr als 80 Staaten, nicht selten – und im Laufe der 1930er Jahre zunehmend – widerwillig und zögerlich, weil die Schutzsuchenden aus Deutschland vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise als Belastung für Ökonomie und Sozialsysteme galten.

In den beiden Weltkriegen (1914-1918 und 1939-1945) führte der Arbeitskräftebedarf (v.a. in der Rüstungsindustrie) zu einem starken Zuzug von Arbeitskräften aus anderen Staaten. Dieser erfolgte jedoch in der Regel nicht freiwillig: Zwangsarbeit prägte die Ausländerbeschäftigung in Kriegszeiten. Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich waren von Vertreibung und Fluchtbewegungen dominiert. Rund 14 Millionen „Reichsdeutsche“ und „Volksdeutsche“ (Angehörige deutscher Minderheiten ohne deutsche Staatsangehörigkeit) flohen aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa in Richtung Westen. In der Bundesrepublik Deutschland erleichterte die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre fundamental die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Gleichzeitig bildeten sie ein qualifiziertes und hochmobiles Arbeitskräftepotenzial, das den wirtschaftlichen Wiederaufstieg mittrug.

„Gastarbeiteranwerbung“, Anwerbestopp und Familiennachzug

In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die noch junge Bundesrepublik Deutschland einen Wirtschaftsboom, der mit einer enormen Expansion des Arbeitsmarktes einherging. Da das inländische Arbeitskräftepotenzial nicht ausreichte, um die Nachfrage zu decken, schloss die Bundesrepublik 1955 mit Italien und 1960 mit Griechenland und Spanien erste Vereinbarungen zur Anwerbung von Arbeitskräften aus diesen Ländern ab. Es folgten entsprechende Abkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten übernahmen in der Regel un- und angelernte Tätigkeiten in der industriellen Produktion mit hoher körperlicher Beanspruchung, gesundheitlicher Belastung und Lohnbedingungen, die viele Einheimische nicht (mehr) akzeptieren wollten. Die Anwerbung der sogenannten „Gastarbeiter“ wurde im Zuge der Öl(preis)krise und steigender Arbeitslosigkeit 1973 beendet. Hintergrund dieser Entscheidung war aber auch die zunehmende Niederlassung der ausländischen Arbeitnehmer im selbsterklärten „Nichteinwanderungsland“ Deutschland.

Vom Ende der 1950er Jahre bis zum „Anwerbestopp“ 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen etwa 11 Millionen nur temporär im Land verblieben und wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Die anderen blieben und zogen ihre Familien nach. So kam es, dass die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen zwar nach dem Ende der Anwerbezeit sank – von 2,6 Millionen 1973 auf 1,6 Millionen 1989 – die ausländische Wohnbevölkerung aber im selben Zeitraum von 3,97 Millionen auf 4,9 Millionen wuchs.

Und in der DDR?

Auch in der DDR gab es einen Arbeitskräftemangel, der vor allem auf die massive Abwanderung in den Westen zurückzuführen war: Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 waren mindestens 2,7 Millionen Menschen in die Bundesrepublik gegangen, während der Umfang der Bewegung aus Westdeutschland in die DDR nur bei rund 500.000 in diesem Zeitraum lag. Die durch die Abwanderung vor allem junger und gut qualifizierter Menschen entstandene Lücke sollte zumindest teilweise durch ausländische Arbeitskräfte geschlossen werden. Dazu schloss die Regierung Abkommen mit sozialistischen „Bruderländern“. 1968 trafen die ersten der sogenannten Vertragsarbeiter aus Ungarn ein. Es folgten Arbeitskräfte aus Algerien, Angola, Polen, Mosambik und Kuba. Die größte Gruppe stammte aus Vietnam. Sie durften nur für eine befristete Zeit in der DDR bleiben. Da private Kontakte zu Einheimischen unerwünscht waren, lebten sie isoliert in Wohnheimen. Nähere Kontakte zu DDR-Bürgern waren genehmigungs- und berichtspflichtig. Zur Wende hielten sich rund 94.000 Vertragsarbeiter in der DDR auf, darunter 60.000 Vietnamesen. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 verließen viele von ihnen das Land – in der Regel, weil ihnen wegen des Auslaufens der Aufenthaltsgenehmigungen keine Alternative blieb.*

Zuwanderung im vereinigten Deutschland: Asylmigration und Aussiedlerzuwanderung in den 1980er und 1990er Jahren

Mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, dem Wandel der politischen Systeme in den ehemaligen Staaten des „Ostblocks“ und dem Ende der DDR 1989/90 veränderten sich die Migrationsmuster in Europa. In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa deutlich an. Sie überschritt 1988 die Marke von 100.000, kletterte im Jahr der europäischen Revolutionen 1989 auf etwa 120.000, erreichte im vereinigten Deutschland 1990 rund 190.000 und 1992 schließlich fast 440.000 (siehe „Flucht und Asyl“).

Neben der Zuwanderung von Asylbewerbern stieg Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre besonders die Zahl der Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland stark an. Die Bezeichnung „Aussiedler“ stammt aus den frühen 1950er Jahren. Nach dem Ende von Flucht und Vertreibung in der Folge des Zweiten Weltkriegs lebten 1950 nach Behördenangaben noch rund vier Millionen Deutsche in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Ihnen sicherte das Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Aufnahme als deutsche Staatsangehörige zu. Von 1950-1975 passierten insgesamt rund 800.000, von 1976-1987 weitere etwa 616.000 Aussiedler die westdeutschen Grenzdurchgangslager, bis mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ deren Massenzuwanderung begann: Von 1987 an gingen die Zahlen vor dem Hintergrund von „Glasnost“ und „Perestrojka“ in der UdSSR rasch nach oben, in den folgenden anderthalb Jahrzehnten kamen mehr als drei Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt wanderten damit im Zeitraum 1950-2016 rund 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler zu.

Fußnoten

1.

Hierzu und zum Folgenden siehe Oltmer, Jochen (2016): Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 3. Aufl. München.

2.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Migrationsprofil Deutschland häufig auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Die Angaben beziehen sich jedoch ausdrücklich auf Angehörige beider Geschlechter.

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Autoren: Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer für bpb.de

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