Es war bereits 2014 klar, dass Russlands Militär in hohem Maße abhängig war von tausenden Bauteilen, die in der Ukraine hergestellt wurden. Diese Kapazitäten und das benötigte Fachpersonal ließen sich nicht einfach ersetzen, da der Aufbau hochkomplexer Rüstungsindustrien Jahrzehnte dauert und Unsummen verschlingt.
Dahingehend war die Kalkulation Russlands sehr eindeutig: Eine Invasion der Ukraine ist ein Muss, wenn sich keine Verhandlungslösung ergibt zur vollen Zufriedenheit des Kremls. Es ist nicht einfach ein Prestigeprojekt Putins oder eine Laune, sondern eine imperiale Kalkulation. Der NATO-Führung und den Auslandsgeheimdiensten der NATO-Staaten, wie etwa dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) muss dieser Umstand genau bewusst gewesen sein. Eine Aufstellung der anvisierten Kriegsbeute für Russland und der zu kompensierenden Produktionsausfälle ist kein Hexenwerk. Ein Bericht wäre erstellt und ans Kanzleramt übermittelt worden.
Hätten die europäischen Staatschefs und Minister diesen Kern-Aspekt der Ukraine-Krise breit in der Öffentlichkeit diskutiert, hätte man einen brutalen Krieg und eine Besatzung der Ukraine viel eher verhindern können. Aber noch heute wird geschwiegen und abgelenkt auf die Person und Launen Putins, sowie auf die Streitigkeiten um die Details der NATO-Osterweiterung. Dabei schwingt bei dem historischen Vergleich zwischen Putin und Hitlers Annexion des Sudetenlandes eigentlich mit, dass das Nazi-Reich sich damals die extrem wichtigen Skoda-Werke holte.
Der Focus interviewte kürzlich Gerhard Conrad, ein „lang gedienter Top-Agent des BND“. Dieser meinte ernsthaft:
„Was ist denn schon in der Ukraine wirtschaftlich für Russland zu holen, das die eigenen Verluste und Kosten kompensieren könnte?“
https://www.focus.de/politik/ausland/war-alles-nur-ein-bluff-was-ein-ehemaliger-bnd-top-mann-ueber-putins-abgesagten-krieg-denkt_id_54539411.html
Es ist Aufgabe des BND, genau diese Frage zu beantworten. Eine Aufstellung der potenziellen Kriegsbeute ließe sich weitestgehend anfertigen mit Hilfe frei verfügbarer Informationen und kann ergänzt werden durch zusätzliche Daten aus geheimen Quellen. Der norwegische Forscher Jokull Johannesson stellte in seiner Studie „Russia’s war with Ukraine is to acquire military industrial capability and human resources” die naheliegende These auf, dass die anvisierte Beute in der Ukraine aus Mensch und Material besteht, auf die Russland dringend angewiesen ist. In dem militärisch-industriellen Komplex der Ukraine wurden geschätzt 3000 Komponenten hergestellt, die essentiell sind für rund 200 russische Raketen, Flugzeuge, Kriegsschiffe, Uboote, Panzer usw.
Die Interkontinentalrakete R-36M, hergestellt vom Industriekomplex Juschmasch in Dnipropetrowsk, war Zeitweise das Rückgrat der sowjetischen bzw. russischen Nuklearstreitkräfte. Solche Waffensysteme benötigen Ersatzteile, Wartungsarbeiten und Upgrades. Zudem spielen bei Atomwaffen Lenksysteme eine Rolle und streng geheime Technologien, mit denen die Waffen scharf gestellt oder deaktiviert werden.
Nach Angaben des grünen Politikers Hans-Josef Fell befand sich der Industriekomplex Juschmasch im Besitz von Zugriffscodes zu 85% der russischen Atomwaffenabwehr. Am 29. August 2014 stellte das Unternehmen angeblich der russischen Regierung ein auf fünf Tage befristetes Ultimatum, ihre anlässlich des Konfliktes in der Ostukraine ins Land gebrachten Waffen und Soldaten wieder abzuziehen. Werde dies nicht befolgt, wolle man die Informationen an die NATO und die USA übergeben.
„Wenn Russland nicht innerhalb von 5 Tagen seine Truppen abzieht und alle Städte freigibt, wird Pivdenmasch [Juschmasch] alle Informationen in Bezug auf die sogenannte nukleare Abwehr Russlands an die NATO und die USA geben, gemeinsam mit allen Codes und Frequenzen zur Raketenabwehr und -zerstörung! Die Russen sind sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber nur dank der Ukraine verfügt über Russland über diese Atomwaffenabwehr, wovon die Ukraine 85 % blockieren kann“
Die Leiterin der staatlichen ukrainischen Privatisierungsgesellschaft, die angeblich auch Juschmasch bearbeiten sollte, wurde tot aufgefunden. Auch Heise berichtete darüber. Kennen die USA durch die Ukraine inzwischen die technischen Geheimnisse der russischen Atomwaffen, hätte dies schwerwiegende Konsequenzen. Theoretisch könnten Stör-Signale entwickelt werden, die den russischen Raketen vorgaukeln, unberechtigt oder irrtümlich abgefeuert worden zu sein.
Es ist die JSC Khartron, Kharkov, die das Leitsystem für alle R-36M-Interkontinentalraketen herstellt. Im Jahr 2008 beauftragte ein russisch-ukrainischer Vertrag ukrainische Firmen mit der Bereitstellung von Upgrades und Wartungsarbeiten zur Verlängerung der Lebensdauer, um die Lebensdauer der Rakete bis 2040 zu verlängern. Darüber hinaus produzieren ukrainische Unternehmen die Leitsysteme für die mobilen SS-25-Raketenwerfer und die silobasierten strategischen SS-19-Raketen, die in der Region Charkow in der Ukraine hergestellt werden.
In den späten 1980er Jahren wurden 75 Prozent der ukrainischen Industriekapazität zur Herstellung sowjetischer Waffen und Komponenten verwendet (Lugar, 2005), und die russische Marine wurde hauptsächlich in der Ukraine gebaut.
Russische Kampfflugzeuge haben in der Ukraine hergestellte Hilfssysteme, einschließlich des Hydrauliksystems für Russlands neuestes Kampfflugzeug Su-34. Die Transportflugzeuge und Hubschrauber der russischen Armee verwenden ukrainische Strahltriebwerke, die in den Werken Antonov in Kiew und Motor Sich in Zaporizhia hergestellt werden. Im Jahr 2015 verhängte Präsident Poroschenko ein Verbot von Militärexporten nach Russland, wodurch die Lieferung von Progress D-18t-Triebwerken gestoppt wurde, die bei der Produktion der russischen AN-140, des taktischen Lufttransportflugzeugs für die russische Armee, verwendet wurden.
Ein Großteil des russischen Panzerbestands wurde in der Lokomotivfabrik Charkiw in der Nordukraine gebaut, einschließlich des T-90-Panzers.
Der Aufbau einer anspruchsvollen Rüstungsindustrie dauert Jahrzehnte, weil abertausende einzelne Komponenten in hoher Qualität hergestellt werden müssen und dafür wiederum ganz bestimmte Maschinen und Fertigungsprozesse und Fachpersonal gebraucht wird.
Russland konnte ab 2014/2015 nicht einfach die dringend benötigten Teile anderswo auf der Welt einkaufen, oder innerhalb von ein paar Jahren neue Produktionsanlagen auf russischem Territorium etablieren. Somit steht das Putin-Regime vor der Wahl, die Ukraine zu überfallen, oder eine exorbitante Schwächung des russischen Militärs in Kauf zu nehmen, was den Status Russlands als Supermacht gefährden würde.
Wie kommt es, dass ein „Top-BND-Agent“ im Focus sich dumm stellt und suggeriert, es gäbe nichts Wertvolles in der Ukraine, was die Kosten einer Invasion und Besatzung aufwiegen würde? Hat man es beim BND nicht fertig gebracht, eine saubere Aufstellung zu machen, was in der Ukraine zu holen ist? Oder hat man eine solche Aufstellung angefertigt und einen entsprechenden Report an die politische Führung durchgereicht? Warum wird dieser zentrale Aspekt dann von der Politik nicht angesprochen, sondern man druckste herum, dass man Putins Absichten leider nicht kennen würde und dass Sanktionen die russische Kalkulation doch bestimmt ins Negative reißen täten?