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Neues Buch zum Fall Relotius erschienen: Ein Fälscher in einer Fälscher-Branche wurde zum Jahrhunderttalent

Datum:

Bild:  Hadrian / Shutterstock.com

Kommentar

Juan Moreno, dessen neues Buch „Tausend Zeilen Lüge“ nun erschienen ist, hat nicht nur die Betrügereien eines unglaublich erfolgreichen SPIEGEL-Reporters enttarnt, sondern betont darüberhinaus: Claas Relotius sei nie ein richtiger Reporter gewesen und galt trotzdem als Jahrhunderttalent. 

Moreno will eine klare Trennlinie ziehen zwischen einem Fälscher wie Relotius und echten Reportern, deren Branche durch Relotius beschmutzt worden sei. Allerdings konnte Relotius derart mühelos fälschen und wurde derartig dafür belohnt und beschützt, dass die Versuchung für andere Reporter enorm groß sein muss.

Jeder Hausmeister und Paketbote wird anscheinend strenger überwacht als Reporter.

Mit einem Bier und Hamburger neben dem Laptop konnte man innerhalb weniger Stunden bequem am Schreibtisch einen Bericht zusammenfantasieren, so als sei man tatsächlich in ferne Länder gereist und sei mühsam einer interessanten Geschichte hinterhergerannt. Ich selbst könnte eine Reihe an Artikeln zusammenfälschen über weite Reisen an die Brennpunkte der Welt, ohne jemals das Büro zu verlassen. Eine Redaktion könnte Romanschreiber für diesen Job anheuern. Nach dem Auffliegen des Lügenbarons verlangen die Redaktionen anscheinend inzwischen grundlegende Beweise von ihren Reportern, die deswegen maulen.

Es wäre eine Sache gewesen, wenn ein erfahrener Reporter mit einer bisher sehr respektablen Karriere plötzlich angefangen hätte, schleichend in zunehmendem Maße zu schummeln. Aber die Arbeit von Relotius war von Anfang an suspekt. Schon auf der Website der Hamburger Journalistenschule, die er besucht hat, erwähnte er Arbeiten unter anderem für den Guardian. Die große Zeitung gab zu verstehen, dass er nie für sie gearbeitet hätte. Als der Spiegel ihm früh eine Festanstellung anbot, erfand er eine krebskranke Schwester als Ausrede, um unabhängig zu bleiben. Nicht einmal das überprüften die SPIEGEL-Genies.

Er sei kein klassischer, extrovertierter, lauter Narzisst. Sondern still und schüchtern. Aber extrem verlogen. Ein schüchterner Narzisst also? Der in Wirklichkeit nur am Tisch saß, aber in seiner Fantasie der Ultra-Journalist war, der die tollsten Dinge fand auf seinen Weltreisen?

Wenn man in dem Versandzentrum eines großen amerikanischen Einzelhandelskonzerns arbeitet, wird sogar jeder Gang aufs Klo elektronisch überwacht. Ein Reporter allerdings konnte sich lustige Katzenvideos auf Youtube anschauen und zwischendurch eine Reportage erfinden, ohne aufzufliegen.

Das Cicero-Magazin konstatierte:

Nach bisherigem Erkenntnisstand bei uns und auch bei anderen betroffenen Medien muss davon ausgegangen werden, dass kein Text von Claas Relotius sauber ist.

Seine Geschichten klangen plausibel. Das reichte. Der SPIEGEL gab wenigstens noch verhältnismäßig viel Geld aus für Recherchen, anders als die anderen Massenmedien. Die meisten Publikationen zahlten Hungerlöhne und gaben auch gleichzeitig fast nichts aus für Faktenprüfung, was natürlich prinzipiell jeden Reporter dazu animierte, zu betrügen. Warum soll man nervige Flugreisen machen, sich in Asien Reisedurchfall einfangen, sich die Füße wundlaufen und dann auch noch riskieren, dass keine tolle Story dabei herauskommt?

Bei der Financial Times Deutschland gab es anscheinend gar kein Fact Checking der zehn Berichte von Relotius. Eine Nachbetrachtung ergab: Relotius hätte für mehrere Berichte gar nicht zu den betreffenden Orten reisen müssen, um die Berichte zu schreiben. Ein wenig Internetrecherche plus etwas Fantasie hätte ausgereicht, um den Eindruck zu erwecken, dort gewesen zu sein. Ist es zu schwierig, von einem Reporter zu verlangen, ein paar Videos vor Ort mit dem Handy zu drehen, sodass der Reporter und die Location auf dem Video zu sehen sind? ist es zu schwierig, vom Reporter zu verlangen, Kontaktdaten zu nennen von Personen, die angeblich getroffen wurden? Theoretisch hätte jeder Reporter eine Reise erfinden und sich von der Redaktion bezahlen lassen können. Genauso hätte der Reporter eine enttäuschend verlaufene Reise aufpeppen können mit erfundenen Figuren, die er getroffen hätte und die den Nerv des Lesers treffen.

In der Faz wurden Interviews veröffentlicht, die Relotius angeblich geführt hatte, aber die betreffenden Personen waren entweder nicht aufzufinden oder konnten sich nicht an ihn erinnern. Die Interview-Texte könnten komplett erfunden gewesen oder woanders abgekupfert worden sein.

Die NZZ meinte hinterher, Figuren aus Relotius‘ Geschichten seien erfunden gewesen. Relotius versuchte generell zu erklären, dass er seine Fantasie spielen ließ, sobald er in einer Reportage feststeckte.

Bei der Weltwoche gab es Berichte, wo wieder Personen nicht zu existieren scheinen und man nicht einmal feststellen kann, ob Relotius vor Ort gewesen war. Bei Interviews mit Hollywood-Promis ist ebenso zweifelhaft, ob überhaupt ein Gespräch stattgefunden hatte.

Letztendlich trieb er es zu weit. Sein Text über einen syrischen Jungen, der im Glauben lebt, durch einen Kinderstreich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben, war zu perfekt, zu romantisch-tragisch und zu erfolgreich. Die Quellen waren wie immer nebulös, obwohl man mit einem Handy und Notizblock alles Wesentliche hätte festhalten können. Bei der Story über eine amerikanische Bürgerwehr platzt dem Mit-Autor Moreno der Kragen.

Der Förderer von Relotius war Ressortleiter Matthias Geyer und sollte eigentlich zum Chef aufsteigen. Ullrich Fichtner, der Relotius zum Spiegel geholt hatte, wäre Chefredakteur geworden. Relotius selbst wäre aufgestiegen zum Ressortleiter und hätte somit selbst keine weiteren Berichte mehr machen (und fälschen) müssen.

Wie hätte Relotius als Ressortleiter die Journalisten unter ihm beaufsichtigt und beauftragt? Hätte er das System der Fälschungen fortgesetzt?

AlexBenesch
AlexBenesch
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